(Vorbemerkung
d. Autors:
das
folgende Reisetagebuch entstand im Rahmen eines spontanen Ausflugs
nach
Italien. Das Original wurde hier lediglich übertragen.)
10.06.16
Nachtstück
An
Dir will ich mich verausgabt haben
Mit
rabenfrohem Lachen,
suchte
den Schwarm,
suchte
die ganze Nacht hindurch, suchte
dies
Gefühl, zum ersten Male
und
doch: erneut.
Auch
ich in Arkadien
"Rabenfroher
Arkadien-topos". Der Tod ist, oder lauert vielmehr, stets im
Hintergrund der Vorstellung des Liebenden. Barthes sagt, der Liebende
strebe ein Paradoxon an, nämlich die Erfüllung des "Höchsten"
und damit seine implizite Wiederholbarkeit, bzw. mehrfache Existenz.
Er möchte etwas Ewiges, über den Tod hinaus Gültiges.
Ich
möchte dieses Heft nutzen, um die Reisen zu reflektieren, die mir
veräußert werden, und zwar durch und mit Menschen, deren
Bekanntschaft ich nicht schicksalhaft nennen mag, deren Anwesenheit
(vielmehr Verortung) in meinem Leben in mir das Gefühl jedoch
evozieren, im Sinne Thoreaus das "Mark des Lebens" zu
saugen.
Schicksal
ist kein für mich gültiges Motiv, denn nur ich, und dabei bin ich
mir in dieser Aussage der Unmöglichkeit einer Autonomie meines
Selbst bis in die letzte Faser bewusst, nur ich sehe und genieße das
Leben, welches ich aus den Menschen um mich herum schöpfe und denen
ich mich im gleichen Augenblick veräußere – und das ist die
Voraussetzung – aus dem einfachen Grund, weil ich das (Leben) sehen
will. Und sollte ich dafür zum Wolfe werden müssen, das Leben ist
mir kostbar.
Gleichzeitig,
und dieses ist ein Kunstgriff, will ich alles mit Bleistift
schreiben. Sollten die Notizen verschwimmen, so entspräche dies doch
nur einem verblödeten Gedächtnis und auch Du, der Du dieses
Heftchen liest, wer und wann auch immer Du sein magst, bekommst nur
den Ausschnitt des Ausschnittes zu Gesicht, den Du aus meinen Worten
herauszufiltern imstande bist. Das soll Dir also immer eine Lehre
sein und Dich erinnern, dass du niemand bist, wenn du nicht spielst.
(Das hat einmal Klaus Kinski so ähnlich formuliert).
Meine
erste Reise führt mich nach Verona und Bardolino, Arkadien ist darum
im mehr als doppelten Sinne ironisch, angesichts der Tatsache, dass
ich hier gerade "Reiseliteratur" produziere. Goethe ist
darum bereits im Gepäck, ich hebe mir die Kapitel zu Verona für
morgen auf.
Ich
erhoffe mir zur Poesie zu kommen, doch in erster Linie möchte ich
sie begreifen und nicht betrachten. "Literatur ist nunmal nicht
für das Auge gemacht"; ich fühle mich voll frischer Geister,
lasst mich endlich fort! Fort von dieser mechanisierten Roboterfabrik
des Westens, auf zum Ursprung, noch pathetischer: Et in arcadia ego.
11.06.16
Grillenzirpen
Um
vier Uhr in der Früh stehe ich auf. Der Wecker überrascht mich
dabei zwar ein bisschen, weil ich mir gestern noch das
Eröffnungsspiel der Fußball-Europameisterschaft anschauen musste,
doch nachdem ich die typischen Prozeduren durchexerziere, die mir
mein Vater mal beibrachte als ich ein Kind war (das hat mit viel
eiskaltem Wasser zu tun), geht es schon viel besser. Ich habe ein
nervöses Herz, ich bin daher "putzmunter", wie man so
schön sagt.
Ungefähr
eine Stunde später sitze ich bereits mit David auf dem Weg zum
Flughafen Schönefeld in der Bahn. Da mich ein ungutes Gefühl
beschleicht, was den Verbleib von Tim angeht, entschließt David
sich, ihn vorsichtshalber anzurufen. Es sollte sich später
herausstellen, dass er Tim mit diesem Anruf tatsächlich weckte. Ich
wünschte ich könnte sagen, ich sei überrascht davon gewesen. Am
Bahnhof Schöneweide wechseln wir die Bahn und während wir ausharren
machen wir das, was David mir gegenüber "legalizen" nennt.
Dieser
Morgen in Berlin war mild, wie schon die ganze letzte Woche, was
scheinbar eine Ausnahme darstellte hinsichtlich der übrigen Regionen
Deutschlands.
Als
wir später an unserem Gate ankommen, stehen die Leute bereits in der
Reihe an, was uns nicht aufhört zu wundern, da wir noch ein gutes
Stück zu warten hatten. Wir beschließen sitzen zu bleiben, wo es
angenehm ist, nämlich im "priority" Bereich und ziehen es
vor, darüber zu diskutieren wie sehr der Flughafen dem "Lager
als Nomos der Moderne" gleicht. Als das Gate dann öffnet,
stellen wir uns nach kürzester Zeit mit zu den "priority"
Kunden, ohne für diese "Option" überhaupt gebucht zu
haben und werden einfach mit durchgelassen.
Im
Flugzeug sitze ich neben David, welcher bemerkt, wie eine junge Frau
mit ihrer Tasche und dem Rucksack an allem hängenbleibt, an dem sie
vorbeigeht, einzig weil sie ihr Smartphone nicht beiseite legt. Die
seltsame Pose der Hand, diese abgewinkelte, krampfhafte Pose ist im
Prinzip, und dieser Vergleich bereitet uns große Freude, die moderne
"Denkerpose" oder hat diese eigentlich abgelöst. So wie
das Denken abgelöst wurde. Das tiefe Nachdenken gerät in
Vergessenheit; es ist zu einer unnötigen Unbequemlichkeit geworden,
die den post-modernen, neoliberalen "Mensch" nur davon
abhält das zu tun, wofür er auf die Welt gekommen ist, nämlich um
zu konsumieren und die Fresse zu halten, wenn es wichtig wird.
Vielleicht darf er dabei mitdiskutieren, wenn es um den Ausgang der
Fußball-Europameisterschaft geht, worin er sich dann konsequent
ereifert und in solch einem Mikrokosmos allerlei innere Logik und
Identifikationspotenzial zu finden vermag, aber das ist ihm doch in
Wahrheit nur gestattet, weil es der größeren Maschinerie dient.
Vermutlich werden im Schatten dieses sportlichen Spektakels wieder
einmal die aberwitzigsten Verträge und Gesetze beschlossen. Brot und
Spiele, wie bei Juvenal, da hat sich nicht viel geändert, scheint
mir. Ich will jetzt nur noch weg.
Kurz
vor der Landung in Bergamo geraten wir in Turbolenzen. Die Vibration
in der Kabine weckt in mir Szenen aus Spielbergs "Hook".
Robin Williams, Peter Pan, hat Flugangst. Er ist inzwischen ein
fetter, unzufriedener Anwalt geworden und hat vergessen, dass er der
Pan war. Die Kinder machen sich einen Spaß daraus, doch er bleibt
erstmal verhaftet (sitzen). Eigentlich erfreue ich mich in meinen
Gedanken nur der Idee, wie das Team für Effekte die Vibrationen so
toll imitieren konnte.
Wir
schaukeln jetzt hin und her, ich taumele im Nichts, nach draußen
kann man nicht sehen, alles graue Suppe, Ursuppe. David zieht es vor,
die Augen zu schließen, er hat vielleicht ein bisschen Angst. Was,
wenn's hier zuende gegangen wäre? Da dachte ich wieder an das
Gedicht, das ich
jemandem zum finden daließ und das beruhigte mich irgendwie. Die Vorstellung
es gäbe Ungesagtes scheint für Viele ein Problem darzustellen,
dabei ist es doch ganz natürlich: die Sprache ist unendlich. Der
menschliche Geist ist es zugegebenermaßen nicht, aufhören zu
sprechen fällt bei mir trotzdem kategorisch aus. Es wäre also doch
nicht schön, hier schon Schluss zu machen. Ich muss weiterschreiben,
weiterleben.
In
Bergamo geht die Welt unter. Einen solch starken Regen habe ich bei
einer Landung noch nie erlebt. Sie bringen Busse, um uns zum Terminal
zu fahren. Ich kann kaum glauben, dass die Landebahnen nicht
schließen müssen. Putzige Naivität. Die Wunder der Technik eben.
Wir nehmen einen Espresso und haben, als Antonia uns abholt, noch
vielleicht zwei Stunden Autobahn vor uns. Dieser Regen scheint alles
wegzuspülen. Man sieht nichts, keine Alpen, keinen Himmel, keine
Straße. Nur Wassertropfen hämmern auf die Windschutzscheibe. Ich
sitze vorn und unterhalte mich mit Antonia, die mir berichtet, dass
bei ihrer Hinfahrt sich nur die Schweizer trauten, einen anderen als
den rechten Streifen zu benutzen. Die schweizer Autobahngarde, auch
die Sintflut würde diese tapferen Soldaten nicht vom Badengehen
abhalten.
Wir
machen Rast an einem Autogrill für Brioche und Cappuccino, der Regen
hatte sich zwischenzeitlich beruhigt. In der Ferne sehe ich Licht,
die Wolkendecke scheint in nicht einzuschätzender Entfernung
aufzubrechen. Wir alle atmen Bergluft auf der Autobahn. Die Italiener
trinken ihren Caffè sehr schnell, erklärt mir David: "That'show
these places work: they get their coffee, drink really, really quick,
and then fuck off again.", ich bin beeindruckt. In der Tat habe
ich mich nicht erinnern können, jemals eine Kaffeetheke solchen
Ausmaßes gesehen zu haben. Es herrscht reger Betrieb, es ist eng,
laut; die Menschen sind gern hektisch. Sie kommen und gehen, so
scheint es, im Sekundentakt. Hier nimmt das Leben an Fahrt auf,
schließe ich. Ich will nur noch runter von der Autobahn, weg von
alledem, mit meinem nervösen Herzen.
Je
mehr wir uns Verona nähern, desto freundlicher scheint mir das
Wetter zu werden. Antonia und ich sprechen jetzt über Goethe, sie
erklärt mir, dass Neapel ihre "Nummer 1 in Italien" ist,
dass sie "ein bisschen lachen" musste, als sie Goethes
Beschreibung zu Verona und Florenz las (sie studierte einmal für ein
Jahr dort), und dass sie Mailand nicht möge. Ich erinnere mich
gehört zu haben, Goethe habe vorgehabt eine Weile in Florenz zu
verbringen, es jedoch in seiner Ungeduld, endlich nach Rom zu
gelangen, dort nicht länger als ein paar Stunden ausgehalten hat.
Antonia sagt, Verona sei das "kleine Rom", was ich so noch
nie gehört habe, aber auch nicht verneinen kann.
Rom
erscheint wieder vor meinem geistigen Auge. Von all den Reisen war
mir Rom am liebsten und teuersten geblieben. Jetzt Verona. Wir
bleiben beinahe den ganzen Tag in der Stadt und genießen jede Kerbe,
jeden Ammoniten, im veronesischen Marmor, mit dem praktisch die
komplette Innenstadt gepflastert ist; er ist von einem kostbaren
rötlichen Farbton. Wir steigen im Teatro Romano umher, wandeln über
die berühmten Pontes, sehen die "Arena", statten dem
lieben Dante einen Besuch ab, essen Panzerotti und trinken
italienisches Bier. Es wird deutlich wärmer jetzt, die Sonne zeigt
sich gegen Nachmittag, was mir so sonderbar vorkommt. Unter dem
starken Regen, den ich durchaus intensiv genoss, schien die Flora
aufzuatmen. Die Luft war jetzt frischer als ich sie lange erlebte
(oder war das meine romantisch verzerrte Wahrnehmung?), Verona zeigte
sich ebenfalls erholt und die mittelalterlichen Gebäude im Zentrum
der Stadt, um den Piazza delle Erbe erzählen mir auch vom
Antisemitismus, der sich durch unsere Geschichte, und seine Schlieren
zieht, vielleicht um uns zu beruhigen und den Verdacht in uns zu
beschwichtigen, es könnte die Angst vor dem Leben sein, die uns das
Konzept der Fremdheit erleben lässt. Auch in Verona gab es schon
immer Luft zu atmen, wie überall. Heute schmeckt sie mir dennoch
süßer als sonst.
Ich
gehe nah an einige Bäume heran, fühle ihre Rinde, rieche an ihnen.
Es riecht wie im Garten meiner Großeltern. Es gibt Zypressen,
Kastanien, Magnolien. Entlang des Etsch Flusses spazieren wir und
unterhalten uns gut. Wir pissen ins Gebüsch, direkt am Ufer, mit
Blick auf den Ponte Pietra. Am Abend nimmt uns Antonia mit auf ihr
Landhaus, wo wir diese Nacht verbringen werden. Dazu holen wir
Charlottes Auto (macchina) von einem Parkplatz, welches ich dann
fahre.
Ich
folge ihr und liebe den alten, zerbeulten Clio auf den ersten Blick.
Jeder, der mich auch nur im Geringsten kennt, weiß um mein Faible
für alte Schrottlauben. Ich genieße es wieder zu fahren. Ich fahre
zwischen Weinbergen, fahre wieder zwischen Lauffen und Neckarwestheim
umher. Reise in der Reise.
Antonias
Landhaus liegt auf einer Anhöhe nahe Bussolengo. Aus der Ferne hört
man Glockenläuten, um das Haupthaus liegt eine Pferdekoppel. Man
sieht von hier aus schon den Gardasee. Bereits beim Einbiegen auf das
Gelände werden wir überfallen von einem Rudel scheinbar
wildgewordener Hunde. Es sind natürlich Antonias Hunde, die um die
noch fahrenden Autos herumtollen, als seien sie ihre Spielgefährten.
Man sieht die Freude ganz deutlich mit den Augen, wenn sie in die
Luft springen und mit dem Schwanz wedeln; als Gäbe es keine Schuld
auf der Welt, so freuen sie sich. Ich freue mich mit.
Da
das Haus genügend Zimmer bietet, beziehen wir jeweils eines zu
zweit. Nachdem ich jedoch die Bücher und mein Waschzeug aus dem
Koffer gepackt habe, zieht es mich wieder nach draußen. Wir sitzen
alle zusammen und unterhalten uns, essen Pizze, trinken Bier oder
Michelada. Später gehen David, Tim und ich ein "Trolla"
rauchen. David! Danke, dass ich hier sein darf. Kurz darauf gehe ich
allein auf's Zimmer, nur für einen Augenblick, um mich zu
vergewissern, dass ich das hier alles wirklich erlebe. Das
Grillenzirpen ist allgegenwärtig, doch niemals lästig, es ist schon
dunkel geworden. Nachdem England unentschieden spielt, gehen wir zum
Rauchen raus und ich sehe seit vielen Jahren wieder einmal
Glühwürmchen. Und schon wieder bin ich im Garten meiner Großeltern.
Tim
sah sie heute das erste Mal. Das Glühen ist der schönste aller
Grüntöne. Ich glühe ebenso, ich spüre es ganz deutlich. Es ist
ein großes Glück, hier zu sein.
12.06.
"Jeder ist ein Gedankenkoch"
Nach
meinem Erwachen in der Früh, alle anderen schlafen noch, mache ich
mich daran, die Erlebnisse des Vortages herunterzubrechen, bemerke
dabei auch bald, dass man Gefühle nicht schreiben kann, aber
manchmal sehen, also auch lesen. Das klingt paradox, doch so ist es
eben nunmal. Gestern meinte ich: "Wer nicht sprechen kann, der
muss schreiben und wer nicht schreiben kann, der muss eben tanzen.",
mal sehen, was davon ich heute machen werde. Es ist fast 9.00 Uhr,
als ich diese Zeilen fertigschreibe. Antonia ist bereits am
Pferdegatter gewesen. Es wird noch Zeit sein ein wenig zu lesen.
Endlich, endlich lesen! Was der alte Goethe wohl in Verona gesehen
haben mag? Das wird mir sein Buch leider auch nicht zeigen können.
Heute fahren wir nach Bardolino. Man hört die Vögel zwitschern,
hier und gelegentliches Donnergrollen. Ich gehe nur noch barfuß,
jetzt.
Gerade
als ich mich mit einem Panino und einer Flasche Wasser nach draußen
begeben und es mir gemütlich machen will, werde ich von Lala
begrüßt, die im Prinzip Charlottes Zwilling sein könnte. Ich komme
also nicht zum Lesen, dafür doch zu einer angenehmen Unterhaltung
und sie
erklärt
mir, dass der See auf sie jeden Tag aufs Neue seine "Magie"
ausübt, weil sie sich das ganz bewusst bewahrt habe. Leider ist es
wohl so, dass die Dinge, die einen umgeben, schnell zur Gewohnheit
werden und der ungeübte Geist sich allzu leicht abstumpft. Bei ihr
sei das anders und das glaube ich ihr für den Moment.
Eine
kleine Weile später setzt sich David zu uns, die anderen schlafen
noch immer, so scheint's. Er und Lala kommen ins Gespräch über was
zu rauchen und als David das ganze abnickt, glänzen Lalas Augen und
sie springt vergnügt davon, um uns kurz darauf wieder abzuholen. In
der Zwischenzeit ist auch Tim munter geworden und begleitet uns auf
unserer kleinen Wanderung über die Wiesen. In der Ferne sieht man
jetzt tiefenverhangene Wolkengebirge, der Wind geht stark und bläst
uns bald ins Gesicht, es donnert jetzt öfter und man sieht ganz
deutlich, wie der Regen sich über den See ausbreitet, ihn nach und
nach verschluckt, während die Affen im nahegelegenen Tierpark das
Spektakel lautstark kommentieren.
Meine
Füße werden vollständig bedeckt mit Gras, es wachsen Mohn und
Kamillen und wilde Kräuter, gerahmt von Disteln; es dauert jetzt
nicht mehr lang, bis uns das Unwetter erreicht. Man kann es direkt
beobachten, wie es zu uns herüber möchte. Komm herüber zu uns!
Hier würde es Dir gefallen, lieber Regen. Doch der Regen streift uns
lediglich, wir stehen
wieder
draußen vor dem Haus und wenn wir die Ohren hinhalten, können
wir
hören, wie die Wassermengen auf den See prasseln. Ein wahrhaft
begeisternder
Klang!
Ich
nehme meine Gedanken mit zum Frühstück, wo es Caffè gibt, den Tim
"in weiser Voraussicht" bereits aufsetzte, bevor wir
losgingen. Dazu pflücken wir uns noch einige Kirschen und Maulbeeren
im Garten, wo Antonia die Bäume voller Früchte stehen hat; und ich
fühle mich wie die Glücksmarie, leiste dem Bäumlein und mir einen
Gefallen und koste reichlich von den dunklen, vollen Früchten. Beim
Frühstück selbst herrschte lange Zeit Ruhe. Jeder von uns konnte
die vielen Eindrücke des Vortages revue passieren lassen. Als
Antonietta sich schließlich zu uns setzte, überlegten wir, was wir
für den heutigen Tag alles planen wollten. Offensichtlich hing das
Spiel der deutschen Nationalmannschaft wie ein drohender Zeigefinger
über unserer Agenda; es galt, alles andere vorher zu lösen.
Schließlich entschlossen wir uns bald nach Bardolino aufzubrechen,
mein Herz machte einen kleinen unschuldigen Sprung, ich fühlte mich
wie Lala und begriff allmählich.
Auf
dem Weg in unser neues Haus fahre ich wieder Charlies Auto. Wir sind
diesmal nur zu viert, haben all unser Gepäck in dem winzigen
Kofferraum unterbringen können. Es geht zunächst über Lazise, man
sieht den See jetzt von der Ostseite aus sich über das gesamte
Sichtfeld erstrecken und die Berge zeigen sich ebenfalls bereits
wieder; die Sonne scheint hier liebend gerne Überstunden zu machen.
In Bardolino strecke ich beim Fahren den linken Arm aus dem Fenster,
die Luft ist frisch und ich fühle mich angekommen. Es ist wieder wie
Gestern, ich spüre die Erfüllung einer tief in mir schlummernden,
unaussprechlichen Empfindung und kann nichts als darüber zu seufzen.
Hier gerät die Sprache, so scheint es, an eine Grenze (also doch!).
Wir
fahren ohne Musik, die Sonne und der Ausblick klingen
vielversprechend genug für uns. Das Ferienhaus liegt auf einer
Anhöhe, etwa einen halben Kilometer vom Ufer entfernt; man hat einen
herrlichen Blick über die komplette Südseite des Gardasees. Wir
verlieren nicht zuviel Zeit uns einzurichten und begeben uns direkt
nach draußen, wo Tim und ich bald Tennis spielen, bald im Pool uns
erfrischen; es ist jetzt warm genug. Ich will alles tun, alles
erleben. Es gibt auch soviel zu tun, zu erleben, hier. Man fühlt
sich wie ein Kind im Spielzeuggeschäft: diesmal läd uns die Natur
ein, ihre süßesten Früchte zu probieren, was sich längst
überfällig anfühlt.
Wir
schmieden Pläne, wir ereifern uns, greifen uns Touristenführer,
Karten, Kunstkataloge aus den Regalen, machen noch ein Bier auf.
Eigentlich müssten wir das Auto stehen lassen. Eigentlich. Am Abend
setzen wir uns in Lazise am Ufer in ein Restaurant, auf Empfehlung
von Antonietta. Wir bestellen Meeresfrüchte, es gibt:
Oktopuspastete, Schwertfischfilet, kostbaren Lachs, geräucherte
Forelle, Kabeljau und Krakensülze, danach nehmen wir Pizze. Die
Terrasse des Restaurants "Classico" befindet sich im ersten
Stock, wir sehen von dort aus also auch die vielen Passanten, die den
Segelbooten im Widerschein der golden gewordenen Sonnenstrahlen
zuwinken. Gelegentlich fliegt ein ferngesteuertes
Miniatursegelflugzeug an uns vorbei... ich genieße nur noch, "ich
lasse machen" (den Ausblick möchte ich nicht weiter
unzureichend beschreiben).
Ich
fühle mich meiner Welt mehr und mehr entrückt, hier fehlt es einem
an nichts und David meint zu mir, dass die Menschen schreiben, wenn
es ihnen gut geht. Ich bin mir da zwar nicht so sicher, was mich
angeht kann ich es aber auch nicht verneinen. Vielleicht brauchen wir
den Kontrast der Enge, bevor wir die Empfindungen, zu denen wir in
der Lage sind, für andere halbwegs nachvollziehbar aufzuzeichnen
imstande sind. Denn all das ist auch Einladung für den, der es
liest. Ich erinnere mich an einen Ausspruch Tims von heute morgen,
als wir beide barfuß über die vom Tau noch feucht glänzenden
Wiesen schritten. Er sagte: "Jeder ist ein Gedankenkoch.",
was darauf bezogen war, dass wir letztlich doch alle unser eigenes
Süppchen köcheln, essen in Gesellschaft aber noch mehr Spaß macht.
Ich teile mein Essen gern und erinnere mich an Madrid und was das
bedeutet, was es wirklich bedeutet, zu essen, zu verinnerlichen. Das
Leben ist das größte Faszinosum, weil es sich stets zwischen
totaler Enge und Freiheit bewegt, wobei weder das Eine noch das
Andere jemals erreicht werden kann. Je mehr wir uns jedoch bemühen,
uns anstrengen, richtig zu leben, in je mehr kaltes Wasser wir unser
Gesicht morgens tauchen, desto heftiger scheinen wir zu erwachen. Die
typischen Prozeduren eben.
Später
ist es dunkel, Deutschland hat gewonnen, aber wir jubeln nicht. All
das wirkt einfach gerade zu weit weg, berührt uns nicht mehr.
Stattdessen wandeln wir auf den Spuren Napoleons, der einst (und das
ist nicht einmal zu lange her) die Straßen Veronas hat verbreitern
lassen, damit man eine Parade zu seinen Ehren veranstalten konnte,
eine, die "seiner würdig" war. Wir erobern keine Nationen
mehr, das wirkt absurd, als beinahe kindisches Gedankengut. Was wir
stattdessen wollen, ist uns unter diesem Sternenhimmel wiederfinden.
Auch nachts ist es angenehm warm. Dann regnet es vertikal, der Wind
steht still. Ich gehe schlafen, ich meine kochen.
13.06.16
Geradeaus bis zur Dämmerung
Frühs
brauche ich meine Uhr noch, ich (muss) darf nicht zu lange liegen,
mich nicht an Bequemlichkeiten gewöhnen. Zu David sage ich später
am Pool: "I grew tired of sleeping", die Zeit existiert
eigentlich nur morgens. Ich setze mich als erster an den Pool, die
Garnituren sind noch feucht. Ich rekapituliere den gestrigen Tag und
finde mich erneut hier, zwischen den Tagen, um zu schreiben. Alles
verschwimmt auf merkwürdige Weise, man nimmt weder Anfang noch Ende
zur Kenntnis und verlangt auch selbst nicht wahrgenommen zu werden.
Als
mich David draußen antrifft, erzähle ich das erste Mal von meinen
Reiseaufzeichnungen, und dass ich gerade bei unserem Gespräch über
die Inspiration bin. Daraufhin nehmen wir einen Espresso (wie viel
Kaffee ich hier trinke!) und erzählen uns Geschichten. Er berichtet
vom "Ludwig case", bei dem eine Serie von Morden begangen
wurde, hier am Gardasee. Die genaue Zahl der Morde ist nicht bekannt,
da es sich bei den Opfern teilweise um "Illegale" handelte.
Der Verurteilte gab an, er wollte die Umgebung "reinigen".
Obwohl er zu dreißig Jahren verknackt wurde wird angenommen, dass er
in Wahrheit einen einflussreichen Kingpin habe decken müssen. Keine
Ahnung ob diese Geschichte die Realität von mir entrückt oder sie
tatsächlich näher bringt. Kein Bedarf auf Antwort, danke.
David
ist als Kind einmal derart von einer Schaukel gefallen, dass ihm auf
seinem Kopf dabei eine Delle blieb. Kinderknochen sind recht biegsam,
daher trug er lediglich eine Gehirnerschütterung davon; abgesehen
von der deutlich spürbaren Delle auf seinem Kopf eben. Ich fühle
artig nach, als er meine Hand nimmt und sie an der entsprechenden
Stelle seines Kopfes entlangführt. Heute lasse ich mich führen,
beschließe ich plötzlich, obwohl ich weiß, dass ich der einzige
mit Führerschein bin. Manchmal stehe ich neben mir, das scheint mir
mittlerweile immer leichter zu fallen. Es wird Zeit, ich muss in den
Pool, die Sonne ärgert mich bald zu sehr; sie neckt mich gern, ich
lasse es mir aber gefallen. Schwalben fliegen niedrig über das
Wasser.
Bald
darauf spiele ich wieder eine Runde Tennis mit Tim, die Hitze legt
sich am späten Vormittag schon bleiern auf unsere Körper, aber wir
haben ja noch das Schwimmbecken. Das Wasser ist besonders sauber,
worauf hier auch jeder achtet; es befindet sich kaum Chlor im Wasser,
jedenfalls merkt man davon nichts.
Antonietta
klärt noch einige Kleinigkeiten mit uns ab für morgen früh, mich
packt dann jedoch schon wieder die Ungeduld und ich schicke meine
Männer an, endlich loszufahren. Wir sind kurz darauf unterwegs und
ich spüre diese Rastlosigkeit wieder. Es macht mir Spaß, uns hier
keine Ruhe zu gönnen. Wie Goethe, muss ich sagen, geht es mir um die
Dinge, die erlebt werden wollen, nicht nur beschrieben. Also sei auch
Du nicht traurig, wenn ich Dir hier die schönsten Momente nicht zu
zeigen in der Lage bin.
Es
geht heute nach Norden, den Gardasee entlang, über das gleichnamige
Städtchen zunächst nach Albisano. Antonietta bestand darauf, uns
hierher zu schicken und in der Tat genießen wir einen hervorragenden
Ausblick auf den Lago und Napoleons Nase an einer Stelle, die nur den
Einwohnern und wenigen anderen bekannt ist. Obwohl die Atmosphäre
"geradezu prächtig anmutet", treibt uns die Neugier bald
weiter über Brenzone nach Malcesine, wo wir das Auto dann fürs
Erste abstellen.
Malcesine
ist das malerische Örtchen, an dem Goethe nachts wegen Unwetters
anlegen musste, es jedoch ebensowenig bereute, wie wir. Die Festung
der Scaligieri befindet sich inmitten der Felsen und man hat einen
fantastischen Blick auf die Alpen, die hier höchstens einen halben
Kilometer vom See entfernt bereits derart in die Höhe wachsen, dass
man den Kopf in den Nacken legen muss, um ihre Spitzen sehen zu
können. Passend zu diesem Ausblick kosten wir ein Gelato, das von
den Anwohnern hier in traditioneller Handwerkskunst in einer Waffel
(cono – coni) serviert wird, wobei die nette Verkäuferin die Crème
mit einem Löffel modelliert und auftürmt, damit sie den mit Schnee
bedeckten Bergen gleicht, deren Dasein wir nun umso mehr genießen
können. Es scheint als wüssten die Ansässigen wohl, der See und
das Land gehöre den steinernen Zeugen, denen sie hier in allen
Facetten ihrer beschäftigten, doch gelassenen Lebensweise Respekt
zollen.
Am
Castello entschließe ich mich die Wand hinunter zum Ufer zu steigen,
springe also kurzerhand über die Brüstung, nicht ohne Tim vorher
zur selben Dummheit anzustiften. Unten schlagen die sanften Wellen
der vorbeifahrenden Boote gegen die Felswand. Ich begegne einer
Handvoll Enten, die ich begrüße (ich spreche ihre Sprache, bin
jedenfalls kurzzeitig davon überzeugt). Man watet durch Wasser,
natürlich barfuß.
Nach
einer Weile treibt uns der nun merkbar gewordenen Hunger tiefer in
das verwinkelte Örtchen. Es stellt sich heraus, dass die meisten
Pizzerien über die Mittagszeit geschlossen haben, finden dafür aber
eine Focacceria mit Namen "Peter Pan", die so klein und
erbaulich, wie liebevoll vertraut wirkt. "Am zweiten Stern
rechts, dann geradeaus bis zur Dämmerung". Mit diesem Vorsatz
geht es weiter, doch schnell noch ein Espresso!
David
erklärt uns, dass man die vor allem nach dem Essen nehmen muss, was
ich logisch finde und mich über die kleinen Lebensweisheiten freue,
die wir uns über den Tag hinweg gegenseitig erzählen. Die Dame aus
dem Pan sei im Übrigen Kubanerin. Auf Davids Frage, ob es ihr hier
in Italien gefalle, antwortet sie: "No!", um direkt im
Anschluss darauf in lautes Lachen zu verfallen. Wir fallen hinterher,
lassen uns fallen, wissen wieder was es heißt, Kind zu sein, die
Sonne, das Wasser, das Vogelgezwitscher zu lieben. Es ist endlich
soweit, wir spielen wieder.
Entlang
des Sees, immer Richtung Norden, durchfahren wir die Tunnel, in denen
sich das Licht verschleiert. Eine diffuse Helligkeit als Metapher auf
die wirkliche Wahrheit, auf die wir uns zuzubewegen glauben. Der Wind
bläst jetzt breite Nebelbänke über die Bergspitzen, der Fahrtwind
erinnert mich daran, dass der Moment zu flüchtig ist, um ihn
tatsächlich in einem Rahmen zu fangen.
Wir
passieren Riva, halten jedoch nicht einmal an, denn wir wollen mehr.
Antonietta wird später sagen: "Der Lago di Garda war euch nicht
genug.", doch zunächst müssen wir noch die Gebirgskette
hinauf; es geht in steilen Serpentinen und der schwache Motor des
kleinen Clio bemüht sich tapfer, unserem nervösen Drängen gerecht
zu werden. Die Anstrengung lohnt sich aber: wir erreichen nach
einiger Zeit, auf 570 Höhenmetern, den Lago di Tenno, welcher sich
praktisch unberührt zwischen den umliegenden Bergen und Wäldern vor
uns auftut. Sobald ich die Knöchel ins kalte Wasser tauche, bemerke
ich kleine Forellen, die höchstens einen Meter entfernt von mir im
Wasser schweben. Der den See umlaufende Wald bietet das
ursprünglichste aller Panoramas, die ich je erinnern werde; das
Wasser des Sees ist glasklar und von einem hellen türkisblauen
Farbton. Wir verweilen kaum länger als eine Minute (glaube ich), da
beginnt es leicht zu nieseln. Wir sind die einzigen am See und
genießen das Schauspiel, denn es scheint als funkelten und
verglimmten winzige Sterne auf des Sees Oberfläche. Der Himmel führt
für uns im Angesicht des spiegelnden Wassers ein Stück auf, welches
wir in völliger Stille verinnerlichen. Einzig die ein oder andere
Forelle springt vergnügt, so scheint's, um dem Theater seinen
Beifall kundzutun, aus den kristallin wirkenden Strukturen der
Wasserebene empor, ganz neckisch, als wollte sie sagen: "Schaut
mal, wie schön wir strahlen hier unten!". Wir blieben noch
lange am See, versunken in Gedanken, hatten Freude an dem deutlich zu
vernehmenden Echo und begaben uns allmählich dann zum Auto zurück.
Im Regen glitten, flogen wir nach Bardolino. Es dauerte kaum länger
als auf der Hinfahrt, dabei waren die Straßen nass und die Fahrer
vorsichtiger geworden. In der Dunkelheit der Dämmerung sieht man die
vereinzelten Dörfer auf der Westseite des Sees wie Pinseltupfer auf
Aquarellbögen leuchten. Sie prasseln auf die Windschutzscheibe und
verschwimmen, werden Eins, trennen sich wieder und zerfließen wie
eine Traumlandschaft. Die Sonne hat Feierabend. Morgen heißt es
Abschied nehmen, es wird ein Seufzer von einem Abschied sein.
(Italien
schlägt Belgien 2:0).
14.06.16
Es wird wieder Zeit
Heute
morgen habe ich es zu eilig, also schreibe ich, was mir zum gestrigen
Tag einfällt, größtenteils im Flugzeug. Heute nahmen wir einen
Kaffee und machten es wie richtige Italiener (we fucked off).Wir
fliegen wieder.
Der
Flug verläuft angenehm, doch dauert nicht lang genug, weshalb ich
diesen Rest zuhause schreibe, als ich wieder Ruhe finde. Beim
Ankommen in Berlin stelle ich noch deutlicher fest, dass ich im
Grunde genommen nicht ganz einverstanden damit bin, jetzt zurück zu
sein. Warum schon jetzt? Nur noch ein bisschen! Wie ein Kind, das
nicht aufstehen will. Ich muss jetzt (wieder) erwachsen werden, muss
mein Smartphone anstellen und damit posieren. Berlin empfängt mich
ähnlich wie Bergamo einige Tage zuvor und ich frage mich, ob ich
daraus auch eine Wiedergeburtsmetapher machen soll (abgelehnt).
Es
heißt jetzt ankommen, um gleich weiterzumachen, denn es wartet ja das Neue auf mich. Ich bekomme Lust meine Geschichte zu erzählen, habe
Lust auf all die anderen "Gegenstände", wie Goethe sagen
würde. Ich habe mein nervöses Herz aus Italien zurückgebracht. Es
ist diese Grille, die immer noch in mein Ohr schrillt, sie bleibt
jetzt hoffentlich.