Episoden aus dem Leben.

Monday, March 9, 2020

Durchsage

Die digitale Uhr in der Reinhardtstraße ragt für einen flüchtigen Blick in den Rahmen der S-Bahn Fenster und wird sichtbar. Sie läuft schneller als mein Auge ihr folgen kann; man muss auf die Hunderterstellen achten, um zu bemerken, dass sie seit einiger Zeit rückwärts läuft. Damit hält sie das Versprechen wach, dass unsere auf Akkumulation fußende Kultur eine Zukunft hat. Man kann es hier ebenso emotionslos wie auf die zweite Kommastelle genau ablesen, es ist eindeutig, denn Zahlen lügen nicht. Das ist das nächste Versprechen. Diese Uhr bannt mich jedes Mal, vielleicht nicht aus dem intendierten Grund: Ich finde sie einfach amüsant. Als nächstes folgt ein kurzer Augenblick ins Innere der Kabine, welcher reichen muss, denn allzu genaue Blicke sind hier nicht erwünscht. Welche Welt sehen meine Augen?
Garderobe grau in grau in grau; bloß nicht auffallen, nur nicht anecken. Dieses Grau, das fast schon ein Blau ist, sehe ich. Es ist die Spannung zwischen zwei Widerständen im Inneren der Person, ein fast verdauter Klumpen der „Weltentzweiung“ oder eine Folge dieser Digestion. Man kann es auch einfacher die Faszination an der Verzweiflung nennen; die ist es mithin auch, die mich dabei von hinten packt, wenn ich das aus der Distanz betrachte. Kurz vor Berlin Hauptbahnhof kommt dann die Durchsage: „Nächste Station: Kölnische Heide.“ Niemanden außer mich wundert es, niemand hebt den Kopf.
Die Frau neben mir ist vertieft in eine Klatschzeitschrift: „Sonja Zietlows Abrechnung mit den Dschungelstars.“ Es gibt andere, deren Garderobe mir gefällt, doch je glatter ihre Schönheit, je überlegter, abgestimmter, das Gesamtbild wirkt, desto misstrauischer sollte man werden. Will man auf einen Diskurs einwirken, so Foucault von der Seite, wirkt auch der Diskurs im gleichen Maße auf einen selbst ein. Besser wieder nach draußen schauen und sich nichts anmerken lassen, die Mehrdeutigkeit wieder aufrichten. Wir spielen übrigens alle wieder das Statuenspiel, bei dem jeder reglos verharrt, ob sitzend oder stehend (ist beides erlaubt), und vorgibt, er hätte nennenswerte Gedankengänge; der Rest glotzt auf sein Telefon. Das ist die zweite Disziplin desselben Spiels, wobei es darauf ankommt, auch dabei interessant auszusehen. Eine Empfehlung für Fortgeschrittene quasi. Ich als Anfänger versuch’s mit meiner schlanken Fachliteratur. Und, siehe da, der gewünschte Effekt tritt bald ein: Ich fühle mich wichtiger als der Rest.