Episoden aus dem Leben.

Tuesday, June 11, 2019

Anhaltender

Kurz nach Gesundbrunnen, kommt die Regionalbahn zum Stehen. Der Zug wurde bereits umgeleitet, da durch die unerwartet starke Hitze die Oberleitungen der Stadtlinie ausgefallen waren. Jetzt kam die Durchsage, wir hätten es wohl mit einer defekten Lok zu tun. Es wird um Geduld gebeten, der Lokführer wisse selbst nicht so ganz, wie es nun weitergehe.
Die weiteren Zuggäste ziehen es vor, im immer noch kühleren Abteil ihr Dasein zu fristen, wodurch wir uns oberflächlich ergänzen, da ich es vorziehe, allein zu sein. Das hat man auch selten: In der Bahn sitzen und nichts außer seinen eigenen Geräuschen zu hören, mal ganz abgesehen von der rauschenden Außenwelt. Einzig beim gelegentlichen Schlucken, stört die Kehle, vertrocknet. Hin und wieder wird die gesamte Bahn von vorbeifahrenden Schnellzügen durchgerüttelt; wer die Hitze mag, fühlt sich wie im Mutterleib.
Die Temperaturen steigen stetig; so, wie die Minuten gerinnen, vergeistern die Wasserreserven in der Atemluft und ich denke an diese eine Kurzgeschichte von Cortázar, die ich mal geschrieben habe... "Geschrieben" schreibe ich schon, ich meine natürlich gelesen. Ein guter Leser muss virtuell gut schreiben können, das habe ich mir gemerkt. Sowie ich jedoch diese Zeilen auf den hellblauen Bildschirm bringe, wird dem Zug ein Schock verpasst. Handelte es sich um eine Wiederbelebungsmaßnahme oder werden wir abgeschleppt? Kurz denke ich, dass es schade ist, weil es mir gerade so leicht von der Hand geht, von hier drüben, doch die als Bedauern sich maskierende Hoffnung verblasst bereits nach wenigen Augenblicken, genau wie mein Bildschirm. Es tut sich nichts: Schiffbruch.

Die Zeit kann man aus der Luft fischen, Burgen aus ihr bauen, mit trutzigen Zinnen, oder man lässt es. Auf einem dünnen Film aus Schweiß rutscht meine Brille jetzt ungehindert auf das spitze Ende meines Nasenrückens zu, zwar aus Gewohnheit rücke ich sie jedesmal nach oben, zum Anfang, zurück, doch ich frage mich, wie lang es dauern würde, bis zur hemmungslosen Aufgabe bekannter Handlungsmuster, bis zum Schulterschluss mit dem Herrn der Fliegen.
Noch eine gute Geschichte für den Sommer, denke ich mir gerade als unter mir eine Tür im quietschenden Ton, vielleicht unter großer Mühe händisch aufgestemmt, sich öffnet. Eine Stimme ruft herein: "Sieht erstmal besser aus, schonmal". Im unteren Teil geht der zur Stimme gehörende Unsichtbare vorbei, wohlmöglich ist es der Lokführer, wer weiß, ins nächste Abteil. Ich höre noch seinen dicken Schlüsselbund klimpern, höre ihn zu Mitreisenden sagen: "So, geht gleich weiter". Danach ertönt das Durchsagesignal, obwohl eine Durchsage noch auf sich warten lässt. Wieder klingt der Schlüsselbund unter meinen Füßen, lockt mich abermals auf die andere Seite. Von weit her höre ich noch dumpf, wie er, dort angekommen, auch denen versichert, er hielte uns auf dem Laufenden, es sähe aber so aus, als kämen wir zumindest zum nächsten Bahnsteig, irgendwie. Das ist das Letzte, woran ich mich erinnere. Ich fühle mich seltsam wohl dabei, dass er nicht zu mir hoch gekommen ist. 

Vielleicht hat er vergessen, dass ich hier bin. Die ganze Stadt scheint's zu vergessen, das Land, die Welt dahinter, die es angeblich gibt, wer weiß das schon so genau. Wo war ich? Ach ja, im Abteil, das ein ächzendes Geräusch von sich gibt, voll von toter Luft; Andacht auf den Kirchenbänken, wie damals, nur viel metallischer, anhaltender.
Ich bin jetzt sehr froh, dass der Zug zum Stehen kam, auch wenn wir schon die ersten hundert Meter entrückt sind, auch wenn ich nur noch verbrauchte Luft einatme und mein Unterhemd wie eine zweite Haut an mir klebt; genau wie meine Sprache, die im günstigsten Fall doch nur die Hälfte dessen bedeckt, was sie zu umfassen gedacht war. Wie die Zeit so vergeht und je mehr Zeilen ich fülle, desto enger wird unsere Verbindung und um so mehr von mir fließt in sie ein.
Wir fahren noch eine ganze Weile so weiter, unter dem ständigen Knarzen dieser röchelnden, sich schwerschleppenden, alten, Lok. Langsam passieren wir Grunewald, mit Glück werden wir es sogar bis Wannsee schaffen. Wie es von dort weitergehen wird?, ich bin nicht sicher.

"Verehrte Fahrgäste, unser Zug verendet in Berlin Wannsee. Reisende nach Potsdam Hauptbahnhof, nutzen bitte die S-Bahn."

Ich weiß nicht mehr, wohin ich ursprünglich wollte. Nur Durst. Will mir etwas beim Kios'... vielleicht ein Bier, vielleicht ein Ruderboot. Ach, nur ein Gummiboot. Und hinaus und verbrenne und zerfließe gleichzeitig; lasse endlich los. Verschütte dabei, in Andenken an den lieben Kleist, meine Bierdose. Sie treibt allein, wie ein Korken auf dem Meer, er nickt ein, in sich, versunken.

Thursday, March 7, 2019

Teil des Exkurses über das Vorhaben meiner Erzählung


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Mir schien, das Experiment sei dann gelungen, wenn die bestimmten Gemütszustände beim Verfassen in der Form des Textes Ausdruck fänden. Mit dieser Entscheidung fiel, ob seiner Formlosigkeit, für die mediale Umsetzung meines Vorhabens die Wahl auf das Palimpsest als Gattung. Dabei ist schon diese Wortwahl, wenn ich einmal „Sprachmetaphysik in eigener Sache“ betreiben dürfte, in ihrer Uneindeutigkeit der Ausdruck der Verdopplung und der Rückwärtsbewegung; soll heißen: Das Palimpsest zeichnet nicht seine Formlosigkeit per se aus, sondern es zeichnet es aus, dass seine Form die Formlosigkeit, der Wandel - mehr noch: die Wende ist. In diesen Nuancen werden die wahren Kriege ausgefochten, nämlich die, die mit dem Kosmos geführt werden (und gegen die Seelenfängerei). Dieser Begriff ist aufgrund seiner Offenheit für Auslegung gleichzeitig im weitesten Sinne die korrekte Bezeichnung für den vorliegenden Text als auch im konkreten Sinne, da dieser in der beschriebenen Charakteristik beispiellos ist.

Die Konsequenz derjenigen Erkenntnis, die ich von meiner Chinafahrt und, viel früher schon, von der kleinen italienischen Reise in der Lage war zu empfangen, war, überall dort, wo die Sprache holprig wird, sich zu fragen, ob das nicht der Text an sich ist, der da vermittelnd reagiert auf das, was inhaltlich vor sich geht, über die Sprache hinaus deutend. Der Inhalt des Textes, noch bevor er interpretiert werden kann, interpretiert seinen eigenen Inhalt auf der Ebene seiner Form. Mir ist das zufällig begegnet. Wie im Prolog beschrieben, wollte ich „das eigentlich noch gar nicht“ aufschreiben. Dieser gereizte Zustand, diese „kindische lila Laune“, wie ich sie auf dem Weg nach Qintian beschrieben habe, ist der Ausdruck der Infantilität, der Ausbruch aus einer dünnen Schicht der konditionierten Handlungsmuster, die ach so oft als Masken Bezeichnung finden: contrainte sociale als Grund der Sucht. Das ist unangenehm, das sind Seiten an uns, die wir allzu gerne verbergen: Wir stolpern nicht gern, wenn jemand zuschaut. Nun stolperte ich zufällig darüber und fühlte mich direkt an solche Leute wie Soupault und Bréton erinnert, die mit ihrer écriture automatique einen wesentlichen Gedankenansatz dazu boten: Diese Beobachtung war es wert, verfolgt zu werden.



Als nächstes überlegte ich, wie ich diesen Zustand erneut herbeiführen könne und da es mir ulkig vorkam, ihn erzwingen zu wollen, wartete ich im Bewusstsein, die Chance nächstes Mal, sobald sie sich böte, zu nutzen. Ich weiß nicht wie oft ich vor dem Verfassen des Prologs liegen geblieben bin; wieviele handwerklich ausgefeiltere Varianten ich im Zuge des Redigierens davon hätte machen können – ich verbat es mir. Damit verbat ich mir auch direkten Zugang zum Schreibprozess, da das, was man in der Folge als einen kreativen Schub bezeichnen könnte, sich nicht jeden Tag ereignet (und auch nicht jede Woche). Das Werden des Textes aus eloquenter Stille hat ein trotziges Eigenleben und entzieht sich gefühlt der Kontrolle des Verfassers (das kann ich im Wesentlichen bestätigen).

Mit dieser mir vom Text aufgezwungenen Strategie war eine direkt körperliche Dimension der Erzählung angelegt und die zeitliche Dimension, die die Inhalte von ihrer Inszenierung in demselben Text, den du jetzt liest, abgrenzt, ist die eigentliche Zeit, die hier vergangen ist. Diese Reise ist endlos teleskopiert, kein Land in Sicht, was sie ihrer Logik nach zur Wanderung werden lässt. Diese Komponente ist es, die im Text immer mitschwingt, immer mit kommuniziert wird. Die Bedeutung dieses Buches lässt sich nicht allein in den Buchstaben finden, die in es gedruckt worden sind. Eine Tatsache, die jedoch durch den récit erst lesbar wird.



Die Entscheidung über die Struktur des Textes schafft Schlüsselstellen, an denen bestimmte Melodien, Stimmungen und Rythmen, allem voran diejenigen, die man mit dem Körper wahrnimmt: die unangenehme Sättigung, das Stirnrunzeln, die Entfremdung gegenüber allem, was man nicht gewöhnt ist (man stelle sich mal vor, Kinder würden der sich ihnen darbietenden Welt mit solchen Bauchschmerzen begegnen); all diese Empfindungen also, deren Begriffe die meisten verlernt haben; all diese Lust bringt der Text an die Oberfläche und nutzt sie als Vehikel, um mit und in ihr wieder hinabzusteigen. Diese Lust ist aber kein Schatten, der allein sich auf das unmittelbar Erfahrbare, Sensorische, bezieht: Sie vermittelt zwischen Stil und Inhalt, genauso wie zwischen Vermarktbarkeit und Lesewiderstand, und schafft Übergänge in alle Richtungen des Archipels, in dessen Rahmen die vorliegende Fiktion eingebettet ist.



Man kann wahrhaftig nicht sagen, ich sei dankbar darüber, dass der Begriff der Literatur auch die Kulturindustrie dahinter einschließt, die jede Erzählung als das Erwartbare (und das ist nicht zu verwechseln mit dem, was als realistisch gilt!) prägt. Trotzdem muss betont werden, dass die Form, die ich wähle nicht ohne den Einfluss, man könnte auch sagen Kontext, auch dieser Faktoren hätte enstehen können. Natürlich überrascht das nicht: Unsere Wanderung ist eine Wanderung hinab, auch wenn das Auge an bestimmten Stellen eine kleine Welle zeichnet, so ist mich zu lesen ein stetiges Sicheingewöhnen in zunächst fremd wirkende Denkmuster und mit jeder Meterzahl steigt der Druck auf mich, dir endlich zu erklären, was ich denn mit all dem meine, bevor dir die Luft ausgeht. Manchmal wirkt deswegen die Laune des Textes gegen mein eigentliches Bestreben und obwohl ich schon viel dazu gelernt habe muss ich gestehen, begleitet mich mit jeder Zeile die Furcht davor, ich könne dich nie erreichen, auch wenn ich dich noch so sehr in die Tiefe ziehe.

Was ich dir im doppelte Sinne sage ist das, was ich auch Brummer sagen will (und während des Redigierens auch wiederholt ihm mitgeteilt habe), nämlich: An und für sich kann ich dir nichts erklären, habe es auch nie versucht, schreibe nur (und be-schreibe nicht). Trotzdem fordere ich dich heraus, doch nicht ohne meine Demut glänzend zu polieren, das sollst du wissen; wo doch jeder Absatz, den du mich weiterverfolgst, der Sonne Glast in meine Augen scheint. Selbstverständlich möchte ich mich mitteilen. Es wäre lächerlich zu behaupten, ich schriebe allein der Eigentherapie halber; lächerlich, weil es im gleichen Atemzug jeden an der Verständigung zwischen Menschen Interessierten immer schon im Vorhinein denunzierte. Den Einwand, ich dürfe nichts sagen, da ich alles durch meine Linse betrachte, weise ich genauso mit gerümpft eurozentrischer Nase zurück, wie die Behauptung, auch diese Entscheidung sei in sich selbst nicht ambig.



Das Wichtigste schließlich für mich war, die Stimmen, die mich umtreiben, zu würdigen. Namen zu nennen geziemt sich aus verschiedenen Gründen nicht. Allein der Tradition, in der sie stehen wegen fiele es mir schwer, dem Personenkult Raum zu schaffen und ebenso fiele mir, mit Verlaub, auch nicht ein, den Ahnungslosen zu kränken, sowie (den Kenner) wiederholt zu langweilen. Dabei mag ich nicht zu wagen hoffen denjenigen, der mir bereits soweit Zugang zu sich gewährte, dass er bis hierhin las, auch noch auf Perlentauchgang zu schicken; vielmehr sind die anonym zitierten Stellen als auch die stilistischen Allusionen als Boote zu anderen Inseln zu verstehen, die die innere Karte erweitern, ob nun gezielt angesteuert oder darüber gestolpert.

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