Episoden aus dem Leben.

Monday, July 4, 2016

Eine kleine italienische Reise

(Vorbemerkung d. Autors:
das folgende Reisetagebuch entstand im Rahmen eines spontanen Ausflugs
nach Italien. Das Original wurde hier lediglich übertragen.)

10.06.16 Nachtstück
An Dir will ich mich verausgabt haben
Mit rabenfrohem Lachen,
suchte den Schwarm,
suchte die ganze Nacht hindurch, suchte
dies Gefühl, zum ersten Male
und doch: erneut.
Auch ich in Arkadien

"Rabenfroher Arkadien-topos". Der Tod ist, oder lauert vielmehr, stets im Hintergrund der Vorstellung des Liebenden. Barthes sagt, der Liebende strebe ein Paradoxon an, nämlich die Erfüllung des "Höchsten" und damit seine implizite Wiederholbarkeit, bzw. mehrfache Existenz. Er möchte etwas Ewiges, über den Tod hinaus Gültiges.

Ich möchte dieses Heft nutzen, um die Reisen zu reflektieren, die mir veräußert werden, und zwar durch und mit Menschen, deren Bekanntschaft ich nicht schicksalhaft nennen mag, deren Anwesenheit (vielmehr Verortung) in meinem Leben in mir das Gefühl jedoch evozieren, im Sinne Thoreaus das "Mark des Lebens" zu saugen.
Schicksal ist kein für mich gültiges Motiv, denn nur ich, und dabei bin ich mir in dieser Aussage der Unmöglichkeit einer Autonomie meines Selbst bis in die letzte Faser bewusst, nur ich sehe und genieße das Leben, welches ich aus den Menschen um mich herum schöpfe und denen ich mich im gleichen Augenblick veräußere – und das ist die Voraussetzung – aus dem einfachen Grund, weil ich das (Leben) sehen will. Und sollte ich dafür zum Wolfe werden müssen, das Leben ist mir kostbar.
Gleichzeitig, und dieses ist ein Kunstgriff, will ich alles mit Bleistift schreiben. Sollten die Notizen verschwimmen, so entspräche dies doch nur einem verblödeten Gedächtnis und auch Du, der Du dieses Heftchen liest, wer und wann auch immer Du sein magst, bekommst nur den Ausschnitt des Ausschnittes zu Gesicht, den Du aus meinen Worten herauszufiltern imstande bist. Das soll Dir also immer eine Lehre sein und Dich erinnern, dass du niemand bist, wenn du nicht spielst. (Das hat einmal Klaus Kinski so ähnlich formuliert).
Meine erste Reise führt mich nach Verona und Bardolino, Arkadien ist darum im mehr als doppelten Sinne ironisch, angesichts der Tatsache, dass ich hier gerade "Reiseliteratur" produziere. Goethe ist darum bereits im Gepäck, ich hebe mir die Kapitel zu Verona für morgen auf.
Ich erhoffe mir zur Poesie zu kommen, doch in erster Linie möchte ich sie begreifen und nicht betrachten. "Literatur ist nunmal nicht für das Auge gemacht"; ich fühle mich voll frischer Geister, lasst mich endlich fort! Fort von dieser mechanisierten Roboterfabrik des Westens, auf zum Ursprung, noch pathetischer: Et in arcadia ego.

11.06.16 Grillenzirpen
Um vier Uhr in der Früh stehe ich auf. Der Wecker überrascht mich dabei zwar ein bisschen, weil ich mir gestern noch das Eröffnungsspiel der Fußball-Europameisterschaft anschauen musste, doch nachdem ich die typischen Prozeduren durchexerziere, die mir mein Vater mal beibrachte als ich ein Kind war (das hat mit viel eiskaltem Wasser zu tun), geht es schon viel besser. Ich habe ein nervöses Herz, ich bin daher "putzmunter", wie man so schön sagt.
Ungefähr eine Stunde später sitze ich bereits mit David auf dem Weg zum Flughafen Schönefeld in der Bahn. Da mich ein ungutes Gefühl beschleicht, was den Verbleib von Tim angeht, entschließt David sich, ihn vorsichtshalber anzurufen. Es sollte sich später herausstellen, dass er Tim mit diesem Anruf tatsächlich weckte. Ich wünschte ich könnte sagen, ich sei überrascht davon gewesen. Am Bahnhof Schöneweide wechseln wir die Bahn und während wir ausharren machen wir das, was David mir gegenüber "legalizen" nennt.
Dieser Morgen in Berlin war mild, wie schon die ganze letzte Woche, was scheinbar eine Ausnahme darstellte hinsichtlich der übrigen Regionen Deutschlands.
Als wir später an unserem Gate ankommen, stehen die Leute bereits in der Reihe an, was uns nicht aufhört zu wundern, da wir noch ein gutes Stück zu warten hatten. Wir beschließen sitzen zu bleiben, wo es angenehm ist, nämlich im "priority" Bereich und ziehen es vor, darüber zu diskutieren wie sehr der Flughafen dem "Lager als Nomos der Moderne" gleicht. Als das Gate dann öffnet, stellen wir uns nach kürzester Zeit mit zu den "priority" Kunden, ohne für diese "Option" überhaupt gebucht zu haben und werden einfach mit durchgelassen.
Im Flugzeug sitze ich neben David, welcher bemerkt, wie eine junge Frau mit ihrer Tasche und dem Rucksack an allem hängenbleibt, an dem sie vorbeigeht, einzig weil sie ihr Smartphone nicht beiseite legt. Die seltsame Pose der Hand, diese abgewinkelte, krampfhafte Pose ist im Prinzip, und dieser Vergleich bereitet uns große Freude, die moderne "Denkerpose" oder hat diese eigentlich abgelöst. So wie das Denken abgelöst wurde. Das tiefe Nachdenken gerät in Vergessenheit; es ist zu einer unnötigen Unbequemlichkeit geworden, die den post-modernen, neoliberalen "Mensch" nur davon abhält das zu tun, wofür er auf die Welt gekommen ist, nämlich um zu konsumieren und die Fresse zu halten, wenn es wichtig wird. Vielleicht darf er dabei mitdiskutieren, wenn es um den Ausgang der Fußball-Europameisterschaft geht, worin er sich dann konsequent ereifert und in solch einem Mikrokosmos allerlei innere Logik und Identifikationspotenzial zu finden vermag, aber das ist ihm doch in Wahrheit nur gestattet, weil es der größeren Maschinerie dient. Vermutlich werden im Schatten dieses sportlichen Spektakels wieder einmal die aberwitzigsten Verträge und Gesetze beschlossen. Brot und Spiele, wie bei Juvenal, da hat sich nicht viel geändert, scheint mir. Ich will jetzt nur noch weg.

Kurz vor der Landung in Bergamo geraten wir in Turbolenzen. Die Vibration in der Kabine weckt in mir Szenen aus Spielbergs "Hook". Robin Williams, Peter Pan, hat Flugangst. Er ist inzwischen ein fetter, unzufriedener Anwalt geworden und hat vergessen, dass er der Pan war. Die Kinder machen sich einen Spaß daraus, doch er bleibt erstmal verhaftet (sitzen). Eigentlich erfreue ich mich in meinen Gedanken nur der Idee, wie das Team für Effekte die Vibrationen so toll imitieren konnte.
Wir schaukeln jetzt hin und her, ich taumele im Nichts, nach draußen kann man nicht sehen, alles graue Suppe, Ursuppe. David zieht es vor, die Augen zu schließen, er hat vielleicht ein bisschen Angst. Was, wenn's hier zuende gegangen wäre? Da dachte ich wieder an das Gedicht, das ich
jemandem zum finden daließ und das beruhigte mich irgendwie. Die Vorstellung es gäbe Ungesagtes scheint für Viele ein Problem darzustellen, dabei ist es doch ganz natürlich: die Sprache ist unendlich. Der menschliche Geist ist es zugegebenermaßen nicht, aufhören zu sprechen fällt bei mir trotzdem kategorisch aus. Es wäre also doch nicht schön, hier schon Schluss zu machen. Ich muss weiterschreiben, weiterleben.

In Bergamo geht die Welt unter. Einen solch starken Regen habe ich bei einer Landung noch nie erlebt. Sie bringen Busse, um uns zum Terminal zu fahren. Ich kann kaum glauben, dass die Landebahnen nicht schließen müssen. Putzige Naivität. Die Wunder der Technik eben. Wir nehmen einen Espresso und haben, als Antonia uns abholt, noch vielleicht zwei Stunden Autobahn vor uns. Dieser Regen scheint alles wegzuspülen. Man sieht nichts, keine Alpen, keinen Himmel, keine Straße. Nur Wassertropfen hämmern auf die Windschutzscheibe. Ich sitze vorn und unterhalte mich mit Antonia, die mir berichtet, dass bei ihrer Hinfahrt sich nur die Schweizer trauten, einen anderen als den rechten Streifen zu benutzen. Die schweizer Autobahngarde, auch die Sintflut würde diese tapferen Soldaten nicht vom Badengehen abhalten.
Wir machen Rast an einem Autogrill für Brioche und Cappuccino, der Regen hatte sich zwischenzeitlich beruhigt. In der Ferne sehe ich Licht, die Wolkendecke scheint in nicht einzuschätzender Entfernung aufzubrechen. Wir alle atmen Bergluft auf der Autobahn. Die Italiener trinken ihren Caffè sehr schnell, erklärt mir David: "That'show these places work: they get their coffee, drink really, really quick, and then fuck off again.", ich bin beeindruckt. In der Tat habe ich mich nicht erinnern können, jemals eine Kaffeetheke solchen Ausmaßes gesehen zu haben. Es herrscht reger Betrieb, es ist eng, laut; die Menschen sind gern hektisch. Sie kommen und gehen, so scheint es, im Sekundentakt. Hier nimmt das Leben an Fahrt auf, schließe ich. Ich will nur noch runter von der Autobahn, weg von alledem, mit meinem nervösen Herzen.
Je mehr wir uns Verona nähern, desto freundlicher scheint mir das Wetter zu werden. Antonia und ich sprechen jetzt über Goethe, sie erklärt mir, dass Neapel ihre "Nummer 1 in Italien" ist, dass sie "ein bisschen lachen" musste, als sie Goethes Beschreibung zu Verona und Florenz las (sie studierte einmal für ein Jahr dort), und dass sie Mailand nicht möge. Ich erinnere mich gehört zu haben, Goethe habe vorgehabt eine Weile in Florenz zu verbringen, es jedoch in seiner Ungeduld, endlich nach Rom zu gelangen, dort nicht länger als ein paar Stunden ausgehalten hat. Antonia sagt, Verona sei das "kleine Rom", was ich so noch nie gehört habe, aber auch nicht verneinen kann.
Rom erscheint wieder vor meinem geistigen Auge. Von all den Reisen war mir Rom am liebsten und teuersten geblieben. Jetzt Verona. Wir bleiben beinahe den ganzen Tag in der Stadt und genießen jede Kerbe, jeden Ammoniten, im veronesischen Marmor, mit dem praktisch die komplette Innenstadt gepflastert ist; er ist von einem kostbaren rötlichen Farbton. Wir steigen im Teatro Romano umher, wandeln über die berühmten Pontes, sehen die "Arena", statten dem lieben Dante einen Besuch ab, essen Panzerotti und trinken italienisches Bier. Es wird deutlich wärmer jetzt, die Sonne zeigt sich gegen Nachmittag, was mir so sonderbar vorkommt. Unter dem starken Regen, den ich durchaus intensiv genoss, schien die Flora aufzuatmen. Die Luft war jetzt frischer als ich sie lange erlebte (oder war das meine romantisch verzerrte Wahrnehmung?), Verona zeigte sich ebenfalls erholt und die mittelalterlichen Gebäude im Zentrum der Stadt, um den Piazza delle Erbe erzählen mir auch vom Antisemitismus, der sich durch unsere Geschichte, und seine Schlieren zieht, vielleicht um uns zu beruhigen und den Verdacht in uns zu beschwichtigen, es könnte die Angst vor dem Leben sein, die uns das Konzept der Fremdheit erleben lässt. Auch in Verona gab es schon immer Luft zu atmen, wie überall. Heute schmeckt sie mir dennoch süßer als sonst.
Ich gehe nah an einige Bäume heran, fühle ihre Rinde, rieche an ihnen. Es riecht wie im Garten meiner Großeltern. Es gibt Zypressen, Kastanien, Magnolien. Entlang des Etsch Flusses spazieren wir und unterhalten uns gut. Wir pissen ins Gebüsch, direkt am Ufer, mit Blick auf den Ponte Pietra. Am Abend nimmt uns Antonia mit auf ihr Landhaus, wo wir diese Nacht verbringen werden. Dazu holen wir Charlottes Auto (macchina) von einem Parkplatz, welches ich dann fahre.
Ich folge ihr und liebe den alten, zerbeulten Clio auf den ersten Blick. Jeder, der mich auch nur im Geringsten kennt, weiß um mein Faible für alte Schrottlauben. Ich genieße es wieder zu fahren. Ich fahre zwischen Weinbergen, fahre wieder zwischen Lauffen und Neckarwestheim umher. Reise in der Reise.
Antonias Landhaus liegt auf einer Anhöhe nahe Bussolengo. Aus der Ferne hört man Glockenläuten, um das Haupthaus liegt eine Pferdekoppel. Man sieht von hier aus schon den Gardasee. Bereits beim Einbiegen auf das Gelände werden wir überfallen von einem Rudel scheinbar wildgewordener Hunde. Es sind natürlich Antonias Hunde, die um die noch fahrenden Autos herumtollen, als seien sie ihre Spielgefährten. Man sieht die Freude ganz deutlich mit den Augen, wenn sie in die Luft springen und mit dem Schwanz wedeln; als Gäbe es keine Schuld auf der Welt, so freuen sie sich. Ich freue mich mit.
Da das Haus genügend Zimmer bietet, beziehen wir jeweils eines zu zweit. Nachdem ich jedoch die Bücher und mein Waschzeug aus dem Koffer gepackt habe, zieht es mich wieder nach draußen. Wir sitzen alle zusammen und unterhalten uns, essen Pizze, trinken Bier oder Michelada. Später gehen David, Tim und ich ein "Trolla" rauchen. David! Danke, dass ich hier sein darf. Kurz darauf gehe ich allein auf's Zimmer, nur für einen Augenblick, um mich zu vergewissern, dass ich das hier alles wirklich erlebe. Das Grillenzirpen ist allgegenwärtig, doch niemals lästig, es ist schon dunkel geworden. Nachdem England unentschieden spielt, gehen wir zum Rauchen raus und ich sehe seit vielen Jahren wieder einmal Glühwürmchen. Und schon wieder bin ich im Garten meiner Großeltern.
Tim sah sie heute das erste Mal. Das Glühen ist der schönste aller Grüntöne. Ich glühe ebenso, ich spüre es ganz deutlich. Es ist ein großes Glück, hier zu sein.

12.06. "Jeder ist ein Gedankenkoch"
Nach meinem Erwachen in der Früh, alle anderen schlafen noch, mache ich mich daran, die Erlebnisse des Vortages herunterzubrechen, bemerke dabei auch bald, dass man Gefühle nicht schreiben kann, aber manchmal sehen, also auch lesen. Das klingt paradox, doch so ist es eben nunmal. Gestern meinte ich: "Wer nicht sprechen kann, der muss schreiben und wer nicht schreiben kann, der muss eben tanzen.", mal sehen, was davon ich heute machen werde. Es ist fast 9.00 Uhr, als ich diese Zeilen fertigschreibe. Antonia ist bereits am Pferdegatter gewesen. Es wird noch Zeit sein ein wenig zu lesen. Endlich, endlich lesen! Was der alte Goethe wohl in Verona gesehen haben mag? Das wird mir sein Buch leider auch nicht zeigen können. Heute fahren wir nach Bardolino. Man hört die Vögel zwitschern, hier und gelegentliches Donnergrollen. Ich gehe nur noch barfuß, jetzt.
Gerade als ich mich mit einem Panino und einer Flasche Wasser nach draußen begeben und es mir gemütlich machen will, werde ich von Lala begrüßt, die im Prinzip Charlottes Zwilling sein könnte. Ich komme also nicht zum Lesen, dafür doch zu einer angenehmen Unterhaltung und sie
erklärt mir, dass der See auf sie jeden Tag aufs Neue seine "Magie" ausübt, weil sie sich das ganz bewusst bewahrt habe. Leider ist es wohl so, dass die Dinge, die einen umgeben, schnell zur Gewohnheit werden und der ungeübte Geist sich allzu leicht abstumpft. Bei ihr sei das anders und das glaube ich ihr für den Moment.
Eine kleine Weile später setzt sich David zu uns, die anderen schlafen noch immer, so scheint's. Er und Lala kommen ins Gespräch über was zu rauchen und als David das ganze abnickt, glänzen Lalas Augen und sie springt vergnügt davon, um uns kurz darauf wieder abzuholen. In der Zwischenzeit ist auch Tim munter geworden und begleitet uns auf unserer kleinen Wanderung über die Wiesen. In der Ferne sieht man jetzt tiefenverhangene Wolkengebirge, der Wind geht stark und bläst uns bald ins Gesicht, es donnert jetzt öfter und man sieht ganz deutlich, wie der Regen sich über den See ausbreitet, ihn nach und nach verschluckt, während die Affen im nahegelegenen Tierpark das Spektakel lautstark kommentieren.
Meine Füße werden vollständig bedeckt mit Gras, es wachsen Mohn und Kamillen und wilde Kräuter, gerahmt von Disteln; es dauert jetzt nicht mehr lang, bis uns das Unwetter erreicht. Man kann es direkt beobachten, wie es zu uns herüber möchte. Komm herüber zu uns! Hier würde es Dir gefallen, lieber Regen. Doch der Regen streift uns lediglich, wir stehen
wieder draußen vor dem Haus und wenn wir die Ohren hinhalten, können
wir hören, wie die Wassermengen auf den See prasseln. Ein wahrhaft
begeisternder Klang!
Ich nehme meine Gedanken mit zum Frühstück, wo es Caffè gibt, den Tim "in weiser Voraussicht" bereits aufsetzte, bevor wir losgingen. Dazu pflücken wir uns noch einige Kirschen und Maulbeeren im Garten, wo Antonia die Bäume voller Früchte stehen hat; und ich fühle mich wie die Glücksmarie, leiste dem Bäumlein und mir einen Gefallen und koste reichlich von den dunklen, vollen Früchten. Beim Frühstück selbst herrschte lange Zeit Ruhe. Jeder von uns konnte die vielen Eindrücke des Vortages revue passieren lassen. Als Antonietta sich schließlich zu uns setzte, überlegten wir, was wir für den heutigen Tag alles planen wollten. Offensichtlich hing das Spiel der deutschen Nationalmannschaft wie ein drohender Zeigefinger über unserer Agenda; es galt, alles andere vorher zu lösen. Schließlich entschlossen wir uns bald nach Bardolino aufzubrechen, mein Herz machte einen kleinen unschuldigen Sprung, ich fühlte mich wie Lala und begriff allmählich.
Auf dem Weg in unser neues Haus fahre ich wieder Charlies Auto. Wir sind diesmal nur zu viert, haben all unser Gepäck in dem winzigen Kofferraum unterbringen können. Es geht zunächst über Lazise, man sieht den See jetzt von der Ostseite aus sich über das gesamte Sichtfeld erstrecken und die Berge zeigen sich ebenfalls bereits wieder; die Sonne scheint hier liebend gerne Überstunden zu machen. In Bardolino strecke ich beim Fahren den linken Arm aus dem Fenster, die Luft ist frisch und ich fühle mich angekommen. Es ist wieder wie Gestern, ich spüre die Erfüllung einer tief in mir schlummernden, unaussprechlichen Empfindung und kann nichts als darüber zu seufzen. Hier gerät die Sprache, so scheint es, an eine Grenze (also doch!).
Wir fahren ohne Musik, die Sonne und der Ausblick klingen vielversprechend genug für uns. Das Ferienhaus liegt auf einer Anhöhe, etwa einen halben Kilometer vom Ufer entfernt; man hat einen herrlichen Blick über die komplette Südseite des Gardasees. Wir verlieren nicht zuviel Zeit uns einzurichten und begeben uns direkt nach draußen, wo Tim und ich bald Tennis spielen, bald im Pool uns erfrischen; es ist jetzt warm genug. Ich will alles tun, alles erleben. Es gibt auch soviel zu tun, zu erleben, hier. Man fühlt sich wie ein Kind im Spielzeuggeschäft: diesmal läd uns die Natur ein, ihre süßesten Früchte zu probieren, was sich längst überfällig anfühlt.
Wir schmieden Pläne, wir ereifern uns, greifen uns Touristenführer, Karten, Kunstkataloge aus den Regalen, machen noch ein Bier auf. Eigentlich müssten wir das Auto stehen lassen. Eigentlich. Am Abend setzen wir uns in Lazise am Ufer in ein Restaurant, auf Empfehlung von Antonietta. Wir bestellen Meeresfrüchte, es gibt: Oktopuspastete, Schwertfischfilet, kostbaren Lachs, geräucherte Forelle, Kabeljau und Krakensülze, danach nehmen wir Pizze. Die Terrasse des Restaurants "Classico" befindet sich im ersten Stock, wir sehen von dort aus also auch die vielen Passanten, die den Segelbooten im Widerschein der golden gewordenen Sonnenstrahlen zuwinken. Gelegentlich fliegt ein ferngesteuertes Miniatursegelflugzeug an uns vorbei... ich genieße nur noch, "ich lasse machen" (den Ausblick möchte ich nicht weiter unzureichend beschreiben).
Ich fühle mich meiner Welt mehr und mehr entrückt, hier fehlt es einem an nichts und David meint zu mir, dass die Menschen schreiben, wenn es ihnen gut geht. Ich bin mir da zwar nicht so sicher, was mich angeht kann ich es aber auch nicht verneinen. Vielleicht brauchen wir den Kontrast der Enge, bevor wir die Empfindungen, zu denen wir in der Lage sind, für andere halbwegs nachvollziehbar aufzuzeichnen imstande sind. Denn all das ist auch Einladung für den, der es liest. Ich erinnere mich an einen Ausspruch Tims von heute morgen, als wir beide barfuß über die vom Tau noch feucht glänzenden Wiesen schritten. Er sagte: "Jeder ist ein Gedankenkoch.", was darauf bezogen war, dass wir letztlich doch alle unser eigenes Süppchen köcheln, essen in Gesellschaft aber noch mehr Spaß macht. Ich teile mein Essen gern und erinnere mich an Madrid und was das bedeutet, was es wirklich bedeutet, zu essen, zu verinnerlichen. Das Leben ist das größte Faszinosum, weil es sich stets zwischen totaler Enge und Freiheit bewegt, wobei weder das Eine noch das Andere jemals erreicht werden kann. Je mehr wir uns jedoch bemühen, uns anstrengen, richtig zu leben, in je mehr kaltes Wasser wir unser Gesicht morgens tauchen, desto heftiger scheinen wir zu erwachen. Die typischen Prozeduren eben.
Später ist es dunkel, Deutschland hat gewonnen, aber wir jubeln nicht. All das wirkt einfach gerade zu weit weg, berührt uns nicht mehr. Stattdessen wandeln wir auf den Spuren Napoleons, der einst (und das ist nicht einmal zu lange her) die Straßen Veronas hat verbreitern lassen, damit man eine Parade zu seinen Ehren veranstalten konnte, eine, die "seiner würdig" war. Wir erobern keine Nationen mehr, das wirkt absurd, als beinahe kindisches Gedankengut. Was wir stattdessen wollen, ist uns unter diesem Sternenhimmel wiederfinden. Auch nachts ist es angenehm warm. Dann regnet es vertikal, der Wind steht still. Ich gehe schlafen, ich meine kochen.

13.06.16 Geradeaus bis zur Dämmerung
Frühs brauche ich meine Uhr noch, ich (muss) darf nicht zu lange liegen, mich nicht an Bequemlichkeiten gewöhnen. Zu David sage ich später am Pool: "I grew tired of sleeping", die Zeit existiert eigentlich nur morgens. Ich setze mich als erster an den Pool, die Garnituren sind noch feucht. Ich rekapituliere den gestrigen Tag und finde mich erneut hier, zwischen den Tagen, um zu schreiben. Alles verschwimmt auf merkwürdige Weise, man nimmt weder Anfang noch Ende zur Kenntnis und verlangt auch selbst nicht wahrgenommen zu werden.
Als mich David draußen antrifft, erzähle ich das erste Mal von meinen Reiseaufzeichnungen, und dass ich gerade bei unserem Gespräch über die Inspiration bin. Daraufhin nehmen wir einen Espresso (wie viel Kaffee ich hier trinke!) und erzählen uns Geschichten. Er berichtet vom "Ludwig case", bei dem eine Serie von Morden begangen wurde, hier am Gardasee. Die genaue Zahl der Morde ist nicht bekannt, da es sich bei den Opfern teilweise um "Illegale" handelte. Der Verurteilte gab an, er wollte die Umgebung "reinigen". Obwohl er zu dreißig Jahren verknackt wurde wird angenommen, dass er in Wahrheit einen einflussreichen Kingpin habe decken müssen. Keine Ahnung ob diese Geschichte die Realität von mir entrückt oder sie tatsächlich näher bringt. Kein Bedarf auf Antwort, danke.

David ist als Kind einmal derart von einer Schaukel gefallen, dass ihm auf seinem Kopf dabei eine Delle blieb. Kinderknochen sind recht biegsam, daher trug er lediglich eine Gehirnerschütterung davon; abgesehen von der deutlich spürbaren Delle auf seinem Kopf eben. Ich fühle artig nach, als er meine Hand nimmt und sie an der entsprechenden Stelle seines Kopfes entlangführt. Heute lasse ich mich führen, beschließe ich plötzlich, obwohl ich weiß, dass ich der einzige mit Führerschein bin. Manchmal stehe ich neben mir, das scheint mir mittlerweile immer leichter zu fallen. Es wird Zeit, ich muss in den Pool, die Sonne ärgert mich bald zu sehr; sie neckt mich gern, ich lasse es mir aber gefallen. Schwalben fliegen niedrig über das Wasser.
Bald darauf spiele ich wieder eine Runde Tennis mit Tim, die Hitze legt sich am späten Vormittag schon bleiern auf unsere Körper, aber wir haben ja noch das Schwimmbecken. Das Wasser ist besonders sauber, worauf hier auch jeder achtet; es befindet sich kaum Chlor im Wasser, jedenfalls merkt man davon nichts.
Antonietta klärt noch einige Kleinigkeiten mit uns ab für morgen früh, mich packt dann jedoch schon wieder die Ungeduld und ich schicke meine Männer an, endlich loszufahren. Wir sind kurz darauf unterwegs und ich spüre diese Rastlosigkeit wieder. Es macht mir Spaß, uns hier keine Ruhe zu gönnen. Wie Goethe, muss ich sagen, geht es mir um die Dinge, die erlebt werden wollen, nicht nur beschrieben. Also sei auch Du nicht traurig, wenn ich Dir hier die schönsten Momente nicht zu zeigen in der Lage bin.
Es geht heute nach Norden, den Gardasee entlang, über das gleichnamige Städtchen zunächst nach Albisano. Antonietta bestand darauf, uns hierher zu schicken und in der Tat genießen wir einen hervorragenden Ausblick auf den Lago und Napoleons Nase an einer Stelle, die nur den Einwohnern und wenigen anderen bekannt ist. Obwohl die Atmosphäre "geradezu prächtig anmutet", treibt uns die Neugier bald weiter über Brenzone nach Malcesine, wo wir das Auto dann fürs Erste abstellen.
Malcesine ist das malerische Örtchen, an dem Goethe nachts wegen Unwetters anlegen musste, es jedoch ebensowenig bereute, wie wir. Die Festung der Scaligieri befindet sich inmitten der Felsen und man hat einen fantastischen Blick auf die Alpen, die hier höchstens einen halben Kilometer vom See entfernt bereits derart in die Höhe wachsen, dass man den Kopf in den Nacken legen muss, um ihre Spitzen sehen zu können. Passend zu diesem Ausblick kosten wir ein Gelato, das von den Anwohnern hier in traditioneller Handwerkskunst in einer Waffel (cono – coni) serviert wird, wobei die nette Verkäuferin die Crème mit einem Löffel modelliert und auftürmt, damit sie den mit Schnee bedeckten Bergen gleicht, deren Dasein wir nun umso mehr genießen können. Es scheint als wüssten die Ansässigen wohl, der See und das Land gehöre den steinernen Zeugen, denen sie hier in allen Facetten ihrer beschäftigten, doch gelassenen Lebensweise Respekt zollen.
Am Castello entschließe ich mich die Wand hinunter zum Ufer zu steigen, springe also kurzerhand über die Brüstung, nicht ohne Tim vorher zur selben Dummheit anzustiften. Unten schlagen die sanften Wellen der vorbeifahrenden Boote gegen die Felswand. Ich begegne einer Handvoll Enten, die ich begrüße (ich spreche ihre Sprache, bin jedenfalls kurzzeitig davon überzeugt). Man watet durch Wasser, natürlich barfuß.
Nach einer Weile treibt uns der nun merkbar gewordenen Hunger tiefer in das verwinkelte Örtchen. Es stellt sich heraus, dass die meisten Pizzerien über die Mittagszeit geschlossen haben, finden dafür aber eine Focacceria mit Namen "Peter Pan", die so klein und erbaulich, wie liebevoll vertraut wirkt. "Am zweiten Stern rechts, dann geradeaus bis zur Dämmerung". Mit diesem Vorsatz geht es weiter, doch schnell noch ein Espresso!
David erklärt uns, dass man die vor allem nach dem Essen nehmen muss, was ich logisch finde und mich über die kleinen Lebensweisheiten freue, die wir uns über den Tag hinweg gegenseitig erzählen. Die Dame aus dem Pan sei im Übrigen Kubanerin. Auf Davids Frage, ob es ihr hier in Italien gefalle, antwortet sie: "No!", um direkt im Anschluss darauf in lautes Lachen zu verfallen. Wir fallen hinterher, lassen uns fallen, wissen wieder was es heißt, Kind zu sein, die Sonne, das Wasser, das Vogelgezwitscher zu lieben. Es ist endlich soweit, wir spielen wieder.

Entlang des Sees, immer Richtung Norden, durchfahren wir die Tunnel, in denen sich das Licht verschleiert. Eine diffuse Helligkeit als Metapher auf die wirkliche Wahrheit, auf die wir uns zuzubewegen glauben. Der Wind bläst jetzt breite Nebelbänke über die Bergspitzen, der Fahrtwind erinnert mich daran, dass der Moment zu flüchtig ist, um ihn tatsächlich in einem Rahmen zu fangen.
Wir passieren Riva, halten jedoch nicht einmal an, denn wir wollen mehr. Antonietta wird später sagen: "Der Lago di Garda war euch nicht genug.", doch zunächst müssen wir noch die Gebirgskette hinauf; es geht in steilen Serpentinen und der schwache Motor des kleinen Clio bemüht sich tapfer, unserem nervösen Drängen gerecht zu werden. Die Anstrengung lohnt sich aber: wir erreichen nach einiger Zeit, auf 570 Höhenmetern, den Lago di Tenno, welcher sich praktisch unberührt zwischen den umliegenden Bergen und Wäldern vor uns auftut. Sobald ich die Knöchel ins kalte Wasser tauche, bemerke ich kleine Forellen, die höchstens einen Meter entfernt von mir im Wasser schweben. Der den See umlaufende Wald bietet das ursprünglichste aller Panoramas, die ich je erinnern werde; das Wasser des Sees ist glasklar und von einem hellen türkisblauen Farbton. Wir verweilen kaum länger als eine Minute (glaube ich), da beginnt es leicht zu nieseln. Wir sind die einzigen am See und genießen das Schauspiel, denn es scheint als funkelten und verglimmten winzige Sterne auf des Sees Oberfläche. Der Himmel führt für uns im Angesicht des spiegelnden Wassers ein Stück auf, welches wir in völliger Stille verinnerlichen. Einzig die ein oder andere Forelle springt vergnügt, so scheint's, um dem Theater seinen Beifall kundzutun, aus den kristallin wirkenden Strukturen der Wasserebene empor, ganz neckisch, als wollte sie sagen: "Schaut mal, wie schön wir strahlen hier unten!". Wir blieben noch lange am See, versunken in Gedanken, hatten Freude an dem deutlich zu vernehmenden Echo und begaben uns allmählich dann zum Auto zurück. Im Regen glitten, flogen wir nach Bardolino. Es dauerte kaum länger als auf der Hinfahrt, dabei waren die Straßen nass und die Fahrer vorsichtiger geworden. In der Dunkelheit der Dämmerung sieht man die vereinzelten Dörfer auf der Westseite des Sees wie Pinseltupfer auf Aquarellbögen leuchten. Sie prasseln auf die Windschutzscheibe und verschwimmen, werden Eins, trennen sich wieder und zerfließen wie eine Traumlandschaft. Die Sonne hat Feierabend. Morgen heißt es Abschied nehmen, es wird ein Seufzer von einem Abschied sein.
(Italien schlägt Belgien 2:0).

14.06.16 Es wird wieder Zeit
Heute morgen habe ich es zu eilig, also schreibe ich, was mir zum gestrigen Tag einfällt, größtenteils im Flugzeug. Heute nahmen wir einen Kaffee und machten es wie richtige Italiener (we fucked off).Wir fliegen wieder.
Der Flug verläuft angenehm, doch dauert nicht lang genug, weshalb ich diesen Rest zuhause schreibe, als ich wieder Ruhe finde. Beim Ankommen in Berlin stelle ich noch deutlicher fest, dass ich im Grunde genommen nicht ganz einverstanden damit bin, jetzt zurück zu sein. Warum schon jetzt? Nur noch ein bisschen! Wie ein Kind, das nicht aufstehen will. Ich muss jetzt (wieder) erwachsen werden, muss mein Smartphone anstellen und damit posieren. Berlin empfängt mich ähnlich wie Bergamo einige Tage zuvor und ich frage mich, ob ich daraus auch eine Wiedergeburtsmetapher machen soll (abgelehnt).
Es heißt jetzt ankommen, um gleich weiterzumachen, denn es wartet ja das Neue auf mich. Ich bekomme Lust meine Geschichte zu erzählen, habe Lust auf all die anderen "Gegenstände", wie Goethe sagen würde. Ich habe mein nervöses Herz aus Italien zurückgebracht. Es ist diese Grille, die immer noch in mein Ohr schrillt, sie bleibt jetzt hoffentlich.

Wednesday, May 25, 2016

Prosadichtung

Da erinnerte ich mich auf einmal an ein solches Gespräch mit einem flüchtigen Bekannten, das muss auf einer Party eines Freundes gewesen sein. Er fragte mich nach reger Unterhaltung ob ich einmal den Steppenwolf gelesen hätte. Ich sagte nein (und habe ihn auch bis heut noch nicht gelesen). Ich erwiderte vermutlich, mit ekelerregender Arroganz, es sei nicht verwunderlich, dass ich auf ähnliche Gedanken wie der Steppenwolf käme, schwirre doch alles vorher schon Gedachte im Weltenraum der Ideen umher, so dass ich es quasi nur herausschöpfen müsse, oder ich sagte dass man sowieso "nicht mehr" das denken könne, was nur Einer denken würde.
Die Verwunderung in seinem Gesicht über diesen Umstand, das Nein auf die Frage, dann sein Blick, ist mir Anhaltspunkt genug, eine scheinbar schlüssige Verknüpfung zu Vergangenem herzustellen. Sein eigenes Gesicht hingegen bleibt für mich im Nebel. Wer war er bloß? Und sowieso, alles Grütze! Wie sollte, könnte, ich nur der Steppenwolf sein, wo ich doch genau ahne, dass mein Ich ein hoffnungsloses Mosaik aus Fragmenten all der Identitäten und Charaktere ist, denen ich in ihren zahllosen Inkarnationen bisher begegnete?
Seitdem ich denken kann fühle ich mich ohne Eigenheit, wie ein Kriechtier, das sich an den schon gedeckten Tisch setzt, bereit die Lorbeeren für Halbvergessenes einzuspeicheln, bereit sich köstlichst zu schaffen zu machen an der Bewunderung seiner naiven Zuhörer, nicht bereit sich dem eigenen Urteil zu entziehen, und das mit gewisser Absicht. Die goldene Zikade der Unzulänglichkeit, der Genuss am höchst elaborierten Masochismus; selbst der Herr Doktor Faust käme an dieses Maß an Selbstverstümmlung nicht heran, da müsste er sich schon weitaus mehr als bloß zwei Herzen aus der Brust reißen.
Dieses sprachliche Häuten geht dann immer so weiter: mal narrenhaft und spöttisch, dann wieder mit der Aviatik eines Wagners, von oben herab im Ganzen betrachtet; mit der Milde des Großvaters sich selbst exerzierend, im ewigen hin und her zwischen zwei Spiegeln: die Fraktalität eines temporären Ichs, das im hegelianischen Sinne immer seine eigene These wie auch Antithese verkörpert, diese alsbald wieder im Raum verschwinden sieht und Platz macht für die zwei Herzen, die sich in einer der beiden Bestandteile ihretwillen nun verborgen haben, bis das Ich sich in der Endlosigkeit verliert. Auswegloser Idealismus ist nichts für die, die ernsthaft glauben mit sich im Reinen zu sein. Daran muss man erst mal glauben können. Der Steppenwolf, das ich nicht lache.
Wenn überhaupt, bin ich das Inselchamäleon. Jede Stelle meiner Haut ist im steten Wandel und kämpft mit der Hommage gegen das Plagiat, das sie jederzeit vernichtend zu schlagen droht. Es kämpft indem es zitiert, es zitiert manchmal ohne zu ahnen, doch es ahnt, dass hinter dem Spiegel nichts wartet: kein Richter, kein Beamter, der einen Mitschnitt anfertigt. Das hier ist kein Verhör mit mir selbst, es ist das plumpe Eingeständnis der Ahnungslosigkeit nicht etwa gegenüber dem, was komme, sondern gegenüber der Möglichkeit, das vielleicht nie etwas war oder sein wird. Vielleicht macht mich der Gedanke schwanken, vielleicht, nur vielleicht, sehe ich dann kurz vor dem Sturz in den Abgrund noch einmal auf dieselben Muster "hinter" mir, um mich endlich von dieser auferzwungenen Reihenfolge alles Seienden abzuschälen. Das davor, danach, der Ekel, die Liebe, alle Dualität in ihrer zweckgemäßen Einfachheit, die die Mittelmäßigkeit unserer Gesellschaft nicht erst seit Jahrzehnten weitersegeln lässt. Ich löse mich davon wie von der Haut, die meinen Körper umschließt und uns allen vorgaukelt es handele sich hier um ein komplettes Ganzes in seiner Gesamtheit. Dabei mag man sich nicht ausmalen in welche aberwitzigen Richtungen die Verwirbelungen des Wassers driften, einzig weil es gerade jetzt die naturgemäße Form der Quelle angenommen hat.
Die Angst, die der Angst vor dem Tode gleicht, ist es, die mich den Steppenwolf nicht lesen lässt. Jedes geschriebene, schon gedachte Wort, das sich für mich wertvoll, ja gar als Schatz anfühlt, zertrümmert mein Mosaik immer mehr, bis es für meine schwachen Augen aus kaum mehr als Zwischenraum, Leere, besteht; zerfleddert mein Gewebe, tötet mich gewissermaßen fragmentarisch immer dann mit der Nüchternheit vor Operationen am offenen Herzen, wenn ich das Gefühl nach Autonomität herbeigesehnt habe. All die anderen Fragmente lachen und starren auf die kleine Scherbe, vor der ich dann Schiffbruch erleide. Alle liegen sie da wie sonst auch, versammelt um im entscheidenden Augenblick, ihrer Kaltblütigkeit willen, schadenfroh zu triumphieren.
Prinzipiell ist nichts mein eigenes und diese ist die stärkste Empfindung, die ich dem in mir schwelenden Ekel entgegensetzen kann. Der Ekel Roquentins, der Ekel einer ganzen Welt, die letzten Endes doch in Wahrheit mich verkörpert und nicht umgekehrt. Die ganze Welt, verborgen in einer Brust, einfacher: ganz für mich allein.

Monday, February 8, 2016

"Balzacsche Kamerafahrt"

Und dann sind die Türen wieder verschlossen. Alle nehmen nach und nach ihre Plätze ein und das Schauspiel beginnt mit neuen Akteuren einvernehmlich von vorne. Wildes durcheinandergequatsche der einen wird von starren, parallelen Blicken der anderen aufgewogen. Sie beobachten die Welt in ihren kleinen Geräten und müssen es auch, ist es ihnen doch nicht gestattet auch nur ein winziges Detail unbeachtet zu lassen. Die anderen erklären ihren Gegenübern jede noch so witzlose Kleinigkeit ihres Alltags, als persiflierten sie einen Balzac, während sie sich an ihren Kaffee im Pappbecher klammern. Gustaf sitzt am Rand der Sitzbankreihe, die Ohren nach innen und die Augen nach außen gewandt. Hier und da schnappt er etwas auf, zwingt sich nicht über die Natur der Menschen zu urteilen, deren Bewegungen ihm künstlich naiv, fast mechanisch choreografiert vorkommen. Oft schon musste er die Bahnfahrten damit verbringen sich seiner Verwunderung über die Sinneskälte dieser für ihn grauen Masse klarzuwerden. Heute sticht ihm die tiefstehende Herbstsonne in die Augen und auch die vorbeiziehenden Gebäude fallen ihm auf. Wie einsame Seelen hoffen sie, dass von der Reflexion ihrer arroganten Augen Notiz genommen wird, doch allerhöchstens wird der im Nachbargebäude sitzende Büroangestellte genervt die Jalousie abblenden, um in Ruhe gelassen zu werden.
Durch seine Fenster sieht Gustaf eine gedachte Welt und die Fensterscheibe der Bahn, die zwischen ihm und der Straße wie eine Folie schwebt, ist wie für gewöhnlich mit dem Dreck der Straße behaftet, der gerade an sonnigen Tagen unheimlich präsent zu sein scheint.