Episoden aus dem Leben.

Wednesday, May 25, 2016

Prosadichtung

Da erinnerte ich mich auf einmal an ein solches Gespräch mit einem flüchtigen Bekannten, das muss auf einer Party eines Freundes gewesen sein. Er fragte mich nach reger Unterhaltung ob ich einmal den Steppenwolf gelesen hätte. Ich sagte nein (und habe ihn auch bis heut noch nicht gelesen). Ich erwiderte vermutlich, mit ekelerregender Arroganz, es sei nicht verwunderlich, dass ich auf ähnliche Gedanken wie der Steppenwolf käme, schwirre doch alles vorher schon Gedachte im Weltenraum der Ideen umher, so dass ich es quasi nur herausschöpfen müsse, oder ich sagte dass man sowieso "nicht mehr" das denken könne, was nur Einer denken würde.
Die Verwunderung in seinem Gesicht über diesen Umstand, das Nein auf die Frage, dann sein Blick, ist mir Anhaltspunkt genug, eine scheinbar schlüssige Verknüpfung zu Vergangenem herzustellen. Sein eigenes Gesicht hingegen bleibt für mich im Nebel. Wer war er bloß? Und sowieso, alles Grütze! Wie sollte, könnte, ich nur der Steppenwolf sein, wo ich doch genau ahne, dass mein Ich ein hoffnungsloses Mosaik aus Fragmenten all der Identitäten und Charaktere ist, denen ich in ihren zahllosen Inkarnationen bisher begegnete?
Seitdem ich denken kann fühle ich mich ohne Eigenheit, wie ein Kriechtier, das sich an den schon gedeckten Tisch setzt, bereit die Lorbeeren für Halbvergessenes einzuspeicheln, bereit sich köstlichst zu schaffen zu machen an der Bewunderung seiner naiven Zuhörer, nicht bereit sich dem eigenen Urteil zu entziehen, und das mit gewisser Absicht. Die goldene Zikade der Unzulänglichkeit, der Genuss am höchst elaborierten Masochismus; selbst der Herr Doktor Faust käme an dieses Maß an Selbstverstümmlung nicht heran, da müsste er sich schon weitaus mehr als bloß zwei Herzen aus der Brust reißen.
Dieses sprachliche Häuten geht dann immer so weiter: mal narrenhaft und spöttisch, dann wieder mit der Aviatik eines Wagners, von oben herab im Ganzen betrachtet; mit der Milde des Großvaters sich selbst exerzierend, im ewigen hin und her zwischen zwei Spiegeln: die Fraktalität eines temporären Ichs, das im hegelianischen Sinne immer seine eigene These wie auch Antithese verkörpert, diese alsbald wieder im Raum verschwinden sieht und Platz macht für die zwei Herzen, die sich in einer der beiden Bestandteile ihretwillen nun verborgen haben, bis das Ich sich in der Endlosigkeit verliert. Auswegloser Idealismus ist nichts für die, die ernsthaft glauben mit sich im Reinen zu sein. Daran muss man erst mal glauben können. Der Steppenwolf, das ich nicht lache.
Wenn überhaupt, bin ich das Inselchamäleon. Jede Stelle meiner Haut ist im steten Wandel und kämpft mit der Hommage gegen das Plagiat, das sie jederzeit vernichtend zu schlagen droht. Es kämpft indem es zitiert, es zitiert manchmal ohne zu ahnen, doch es ahnt, dass hinter dem Spiegel nichts wartet: kein Richter, kein Beamter, der einen Mitschnitt anfertigt. Das hier ist kein Verhör mit mir selbst, es ist das plumpe Eingeständnis der Ahnungslosigkeit nicht etwa gegenüber dem, was komme, sondern gegenüber der Möglichkeit, das vielleicht nie etwas war oder sein wird. Vielleicht macht mich der Gedanke schwanken, vielleicht, nur vielleicht, sehe ich dann kurz vor dem Sturz in den Abgrund noch einmal auf dieselben Muster "hinter" mir, um mich endlich von dieser auferzwungenen Reihenfolge alles Seienden abzuschälen. Das davor, danach, der Ekel, die Liebe, alle Dualität in ihrer zweckgemäßen Einfachheit, die die Mittelmäßigkeit unserer Gesellschaft nicht erst seit Jahrzehnten weitersegeln lässt. Ich löse mich davon wie von der Haut, die meinen Körper umschließt und uns allen vorgaukelt es handele sich hier um ein komplettes Ganzes in seiner Gesamtheit. Dabei mag man sich nicht ausmalen in welche aberwitzigen Richtungen die Verwirbelungen des Wassers driften, einzig weil es gerade jetzt die naturgemäße Form der Quelle angenommen hat.
Die Angst, die der Angst vor dem Tode gleicht, ist es, die mich den Steppenwolf nicht lesen lässt. Jedes geschriebene, schon gedachte Wort, das sich für mich wertvoll, ja gar als Schatz anfühlt, zertrümmert mein Mosaik immer mehr, bis es für meine schwachen Augen aus kaum mehr als Zwischenraum, Leere, besteht; zerfleddert mein Gewebe, tötet mich gewissermaßen fragmentarisch immer dann mit der Nüchternheit vor Operationen am offenen Herzen, wenn ich das Gefühl nach Autonomität herbeigesehnt habe. All die anderen Fragmente lachen und starren auf die kleine Scherbe, vor der ich dann Schiffbruch erleide. Alle liegen sie da wie sonst auch, versammelt um im entscheidenden Augenblick, ihrer Kaltblütigkeit willen, schadenfroh zu triumphieren.
Prinzipiell ist nichts mein eigenes und diese ist die stärkste Empfindung, die ich dem in mir schwelenden Ekel entgegensetzen kann. Der Ekel Roquentins, der Ekel einer ganzen Welt, die letzten Endes doch in Wahrheit mich verkörpert und nicht umgekehrt. Die ganze Welt, verborgen in einer Brust, einfacher: ganz für mich allein.