Da erinnerte ich mich auf einmal an ein
solches Gespräch mit einem flüchtigen Bekannten, das muss auf einer
Party eines Freundes gewesen sein. Er fragte mich nach reger
Unterhaltung ob ich einmal den Steppenwolf gelesen hätte. Ich sagte
nein (und habe ihn auch bis heut noch nicht gelesen). Ich erwiderte
vermutlich, mit ekelerregender Arroganz, es sei nicht verwunderlich,
dass ich auf ähnliche Gedanken wie der Steppenwolf käme, schwirre
doch alles vorher schon Gedachte im Weltenraum der Ideen umher, so
dass ich es quasi nur herausschöpfen müsse, oder ich sagte dass man
sowieso "nicht mehr" das denken könne, was nur Einer
denken würde.
Die Verwunderung in seinem Gesicht über
diesen Umstand, das Nein auf die Frage, dann sein Blick, ist mir
Anhaltspunkt genug, eine scheinbar schlüssige Verknüpfung zu
Vergangenem herzustellen. Sein eigenes Gesicht hingegen bleibt für
mich im Nebel. Wer war er bloß? Und sowieso, alles Grütze! Wie
sollte, könnte, ich nur der Steppenwolf sein, wo ich doch genau
ahne, dass mein Ich ein hoffnungsloses Mosaik aus Fragmenten all der
Identitäten und Charaktere ist, denen ich in ihren zahllosen
Inkarnationen bisher begegnete?
Seitdem ich denken kann fühle ich mich
ohne Eigenheit, wie ein Kriechtier, das sich an den schon gedeckten
Tisch setzt, bereit die Lorbeeren für Halbvergessenes
einzuspeicheln, bereit sich köstlichst zu schaffen zu machen an der
Bewunderung seiner naiven Zuhörer, nicht bereit sich dem eigenen
Urteil zu entziehen, und das mit gewisser Absicht. Die goldene Zikade
der Unzulänglichkeit, der Genuss am höchst elaborierten
Masochismus; selbst der Herr Doktor Faust käme an dieses Maß an
Selbstverstümmlung nicht heran, da müsste er sich schon weitaus
mehr als bloß zwei Herzen aus der Brust reißen.
Dieses sprachliche Häuten geht dann
immer so weiter: mal narrenhaft und spöttisch, dann wieder mit der
Aviatik eines Wagners, von oben herab im Ganzen betrachtet; mit der
Milde des Großvaters sich selbst exerzierend, im ewigen hin und her
zwischen zwei Spiegeln: die Fraktalität eines temporären Ichs, das
im hegelianischen Sinne immer seine eigene These wie auch Antithese
verkörpert, diese alsbald wieder im Raum verschwinden sieht und
Platz macht für die zwei Herzen, die sich in einer der beiden
Bestandteile ihretwillen nun verborgen haben, bis das Ich sich in der
Endlosigkeit verliert. Auswegloser Idealismus ist nichts für die,
die ernsthaft glauben mit sich im Reinen zu sein. Daran muss man erst
mal glauben können. Der Steppenwolf, das ich nicht lache.
Wenn überhaupt, bin ich das
Inselchamäleon. Jede Stelle meiner Haut ist im steten Wandel und
kämpft mit der Hommage gegen das Plagiat, das sie jederzeit
vernichtend zu schlagen droht. Es kämpft indem es zitiert, es
zitiert manchmal ohne zu ahnen, doch es ahnt, dass hinter dem Spiegel
nichts wartet: kein Richter, kein Beamter, der einen Mitschnitt
anfertigt. Das hier ist kein Verhör mit mir selbst, es ist das
plumpe Eingeständnis der Ahnungslosigkeit nicht etwa gegenüber dem,
was komme, sondern gegenüber der Möglichkeit, das vielleicht nie
etwas war oder sein wird. Vielleicht macht mich der Gedanke
schwanken, vielleicht, nur vielleicht, sehe ich dann kurz vor dem
Sturz in den Abgrund noch einmal auf dieselben Muster "hinter"
mir, um mich endlich von dieser auferzwungenen Reihenfolge alles
Seienden abzuschälen. Das davor, danach, der Ekel, die Liebe, alle
Dualität in ihrer zweckgemäßen Einfachheit, die die
Mittelmäßigkeit unserer Gesellschaft nicht erst seit Jahrzehnten
weitersegeln lässt. Ich löse mich davon wie von der Haut, die
meinen Körper umschließt und uns allen vorgaukelt es handele sich
hier um ein komplettes Ganzes in seiner Gesamtheit. Dabei mag man
sich nicht ausmalen in welche aberwitzigen Richtungen die
Verwirbelungen des Wassers driften, einzig weil es gerade jetzt die
naturgemäße Form der Quelle angenommen hat.
Die Angst, die der Angst vor dem Tode
gleicht, ist es, die mich den Steppenwolf nicht lesen lässt. Jedes
geschriebene, schon gedachte Wort, das sich für mich wertvoll, ja
gar als Schatz anfühlt, zertrümmert mein Mosaik immer mehr, bis es
für meine schwachen Augen aus kaum mehr als Zwischenraum, Leere,
besteht; zerfleddert mein Gewebe, tötet mich gewissermaßen
fragmentarisch immer dann mit der Nüchternheit vor Operationen am
offenen Herzen, wenn ich das Gefühl nach Autonomität herbeigesehnt
habe. All die anderen Fragmente lachen und starren auf die kleine
Scherbe, vor der ich dann Schiffbruch erleide. Alle liegen sie da wie
sonst auch, versammelt um im entscheidenden Augenblick, ihrer
Kaltblütigkeit willen, schadenfroh zu triumphieren.
Prinzipiell ist nichts mein eigenes und
diese ist die stärkste Empfindung, die ich dem in mir schwelenden
Ekel entgegensetzen kann. Der Ekel Roquentins, der Ekel einer ganzen
Welt, die letzten Endes doch in Wahrheit mich verkörpert und nicht
umgekehrt. Die ganze Welt, verborgen in einer Brust, einfacher: ganz
für mich allein.